Das Wiener Programmheft der Avantgarde
100 Jahre „Internationale Ausstellung für neue Theatertechnik“
von Franz Gangelmayer,
3. Jänner 2025
Das Programmheft zur „Internationalen Ausstellung für neue Theatertechnik“ von Friedrich Kiesler (Wienbibliothek im Rathaus, Druckschriftensammlung, Sig. A-2437) gilt heute als einer der bemerkenswertesten Ausstellungskataloge Wiens. Dies liegt jedoch nicht nur an den inhaltlichen Aspekten, sondern vor allem an der avantgardistischen Gestaltung des Covers, dem hochwertigen Druck und dem durchgängigen modernen Editorial Design. Besonders prägnant war dabei die Verwendung von Typografie als gestalterisches Mittel. Kiesler setzte großformatige Initialen (M, T, F, W für Musik, Theater, Fest, Wien) ein, um die Aufmerksamkeit auf bestimmte Passagen zu lenken. Die Typografie war also nicht nur funktional, sondern bildete einen integralen Bestandteil des Gesamtkonzepts und trug zur visuellen Einheitlichkeit aller Drucksachen der Ausstellung bei. Um zusätzlich eine hohe optische Wirkung zu erzielen, entschied sich Kiesler für eine reduzierte Farbpalette, die hauptsächlich aus den Farben Rot, Schwarz und Weiß bestand. Der Einsatz von geometrischen Formen und klaren Linien im Layout spiegelte die künstlerischen Strömungen wider, die auch in der Ausstellung präsentiert wurden, insbesondere den russischen Konstruktivismus und die De-Stijl-Bewegung.
Wienbibliothek im Rathaus, Druckschriftensammlung, Sig. A-2437
Das Programmheft war Teil einer umfassenden Kommunikationsstrategie und warb gemeinsam mit gleich gestalteten Plakaten und anderen ephemeren Druckwerken für die Ausstellung, die vom 24. September bis 15. Oktober 1924 im Wiener Konzerthaus stattfand. Diese wegweisende Ausstellung war Teil des größeren Rahmenprogramms des Musik- und Theaterfestes der Stadt Wien 1924, das von der Sozialdemokratischen Kunststelle ausgerichtet worden war. Dabei stand die Förderung zeitgenössischer Kunst im Zentrum – einerseits mit Aufführungen von Werken der Komponisten der Neuen Wiener Schule wie Arnold Schönberg, Anton Webern und Josef Matthias Hauer, anderseits mit Vernissagen in Kunstmuseen, wie beispielsweise der „Internationalen Kunstausstellung“ in der Secession und der „Österreichischen Kunst-Ausstellung 1900–1924“im Künstlerhaus. Das Festival vereinte zahlreiche renommierte Wiener Bühnen und Kulturinstitutionen und machte die Stadt somit für einen Monat zum Mittelpunkt der europäischen Kultur. Neben den beiden Sonderschauen „Ernste Musik in Wien von Bruckner bis zur jüngsten Gegenwart“ und „Das Wiener Volksstück seit 150 Jahren“ im Wiener Rathaus stellte Kieslers international ausgerichtete Ausstellung zur neuen Theatertechnik zweifelsfrei einen Kontrast zu den nationalen Schwerpunkten der parallel laufenden Ausstellungen dar.
Kiesler, der durch seine Kontakte in der internationalen Avantgarde-Szene Zugang zu bedeutenden Theaterpersönlichkeiten der Zeit hatte, versammelte in seiner Schau über 600 Exponate von 80 verschiedenen Leihgeber*innen. Diese Objekte reichten von Fotografien und Zeichnungen bis hin zu Modellen und Filmen, die einen umfassenden Überblick über die neuesten Tendenzen des Theaters lieferten. Kunstschaffende wie László Moholy-Nagy, El Lissitzky, Rudolf Belling, Fernand Léger, Oskar Schlemmer und Theo van Doesburg repräsentierten die unterschiedlichen Strömungen des Konstruktivismus, Futurismus, der De-Stijl-Bewegung und des Bauhauses.
Kunstschaffende wie László Moholy-Nagy, El Lissitzky, Rudolf Belling, Fernand Léger, Oskar Schlemmer und Theo van Doesburg repräsentierten die unterschiedlichen Strömungen des Konstruktivismus, Futurismus, der De-Stijl-Bewegung und des Bauhauses.
Die Ausstellung brachte jedoch nicht nur Lob ein. Während progressive Kreise die Radikalität von Kieslers Ideen schätzten, reagierte die konservative Presse mit Unverständnis und Spott. Besonders die avantgardistischen Bühnenbilder und Dekorationen wurden von der bürgerlichen Presse belächelt. Dennoch war die Schau für das moderne Theater richtungsweisend, da sie neue Perspektiven und Konzepte für die Theaterpraxis eröffnete. Ein herausragendes Merkmal der Ausstellung war Kieslers innovative Lösung der räumlichen Herausforderungen im Wiener Konzerthaus. Da die Säle des Hauses nicht genügend Wandfläche boten, entwickelte er eine frei stehende, mobile Konstruktion, die es ermöglichte, die vielfältigen Exponate harmonisch zu präsentieren.
Den Kern der Ausstellung bildete die von Kiesler entworfene „Raumbühne“ – eine dreidimensionale, spiralförmige Theaterbühne, die das Publikum in die Handlung integrierte und Raum für experimentelle Inszenierungen öffnete. Entgegen traditionellen Bühnenkonzepten, bei denen das Publikum frontal zur Bühne sitzt, bot Kieslers „Raumbühne“ eine allseitige Betrachtung des Geschehens und somit ein interaktives und partizipatives Theatererlebnis. Im Unterschied zu anderen bahnbrechenden Ideen jener Zeit, wie dem „Totaltheater“ von Walter Gropius, wurde die „Raumbühne“ tatsächlich umgesetzt. Während der Ausstellung fand sie auch Verwendung für Aufführungen, darunter Stücke wie Paul Frischauers Kammerspiel „Im Dunkel“.
Insgesamt trug Friedrich Kieslers Ausstellung entscheidend dazu bei, das Musik- und Theaterfest der Stadt Wien 1924 zu einem kulturellen Höhepunkt zu machen. Sie positionierte Wien für kurze Zeit im Zentrum der internationalen Avantgarde und zeigte auf beeindruckende Weise, wie Theatertechnik und Bühnenraum neu gedacht und in die Zukunft geführt werden konnten. In seiner Gestaltung und Konzeption war das Programmheft das Spiegelbild dieser radikalen Ideenschau und stellte einen Meilenstein in der Geschichte der Theater- und Ausstellungsgestaltung dar.
Das Programmheft im Katalog der Wienbibliothek
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