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Ein Ruf nach neuen Menschen: Leopold Jacobson

Typoskript-Durchschlag, Autorschaft ungeklärt. Wienbibliothek im Rathaus, Teilnachlass Leopold Jacobson, ZPH 1923, 1.4.3.

von Wolfgang Straub,
4. März 2024

Nur eine einzige Frage – ein Epigramm, mit der Schreibmaschine zentriert platziert – prangt auf der leeren Blatt, unten mit einem Datum versehen, dem mit einem Punkt Gewicht verliehen wird: „Was sollen neue Ideen, wenn es nicht neue Menschen dazu gibt? Jänner 1921.“ Das Blatt ist nicht das Originaltyposkript, sondern ein zerknülltes Durchschlagpapier. Es entstammt dem Teilnachlass des Journalisten und Librettisten Leopold Jacobson. Das Blatt fand sich in den Konvoluten von Skizzen, Abschriften, Notizen und Fragmenten – oftmals einzelne Blätter –, die keinen Werken mehr zugeordnet werden können. Es könnte sich um das Motto eines Theaterstücks oder eines Operettenlibrettos handeln, die Autorschaft ist nicht zu klären. Aber ohne Bezug liest es sich, gut zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, wie ein Sinnspruch oder vielmehr wie ein verzweifelter Ruf nach einem Neuanfang für die menschliche Spezies nach dieser allumfassenden Katastrophe.

500 Mal „Walzertraum“

Leopold Jacobson gehörte zu den erfolgreichsten Librettisten der Wiener Operette. Er war seit Beginn der 1890er Jahre als Journalist tätig, während einer kürzeren Tätigkeit als Auslandskorrespondent in Berlin dürfte er den Komponisten Oscar Straus kennengelernt haben. Aus der Bekanntschaft entwickelte sich eine erfolgreiche künstlerische Partnerschaft. Gemeinsam mit Felix Dörmann verfasste er das Libretto zu einer der erfolgreichsten Operetten überhaupt: Straus’ „Ein Walzertraum“, 1907 am Leopoldstädter Carltheater uraufgeführt, erlebte über 500 Aufführungen. Das Stück wurde mehrmals verfilmt, zuletzt noch 1969 als Fernsehfilm.

Jacobson versuchte vieles, um an diesen Erfolg anzuschließen, er unternahm – wenig erfolgreich – auch Ausflüge ins Filmgeschäft. Der Bestand an der Wienbibliothek im Rathaus zeugt von einer unermüdlichen Arbeit an Textgrundlagen, Szenen und Dialogen, von einer umfangreichen Suche nach neuen Sujets, Bearbeitungs- und Adaptionsmöglichkeiten. Die Titel seiner Libretti verweisen auf Sujets, die man wohl der „leichten Muse“ zuordnen muss, etwa „Adieu, Ihr Mäderln“, „Eine Ballnacht“, „Dorfmusikanten“, „Der geborgte Kuss“, „Was Mädchen träumen“. Das will so gar nicht zu der grundlegenden humanistischen Frage nach der Bedingung von neuen Ideen durch neue Menschen passen.

Die Hundspeitsche

Der große Erfolg der Operette „Ein Walzertraum“ rief Karl Kraus auf den Plan, der in diesem Erfolg, dem er Lehárs „Lustige Witwe“ (1905 uraufgeführt) zur Seite stellte, in der „Fackel“ eine „Verendung“ der Kultur konstatiert. Die Librettisten dieser beiden Operetten hätten, so Kraus, mehr verdient „als alle Dichter, die heute leben“. Als Kraus dies Anfang 1908 schrieb, hatten Jacobson und er bereits eine gemeinsame Geschichte, vielmehr Fehde, hinter sich. Kraus hatte 1902 in der „Fackel“ auf eine sommerliche Lokalberichterstattung Jacobsons aus dem Salzkammergut reagiert, indem er diese (ohne Namensnennung) voller „gehirnschwache[r] Kalauer“ und im „Ton eines rüstigen Mädchenhändlers in mittleren Jahren“ geschrieben bezeichnete.

Jacobson schrieb Kraus daraufhin einen Brief, in dem er ihm drohte, sich bei Wiederholung einer solchen Schmähung mit der Züchtigung durch die Hundspeitsche Satisfaktion zu verschaffen. Kraus breitete das in der „Fackel“ aus (schreibt dort von der „Reitpeitsche“) und monierte, dass seine Strafanzeige wegen Erpressung bei der Staatsanwaltschaft zu keiner weiteren „strafgerichtlichen Verfolgung des Leopold Jakobson“ geführt habe.

Jacobson wiederum schreibt in seinem Organ, dem „Neuen Wiener Journal“, dass der Herausgeber des „schamrothen Organs“ ein „jämmerlicher Feigling“, eine „Memme“ sei, die nicht, wie es sich für einen Ehrenmann gehöre, mit Leib und Leben für alles einstehe. Aber auch als Jacobson seine Beschimpfungen wenig später öffentlich erneuerte („gewohnheitsmäßiger Ehrabschneider“, „infamster Halunke, der je die verleumderische Feder geführt hat“), ging Kraus nicht darauf ein und verklagte ihn nicht, wie Jacobson wünschte, auf üble Nachrede.

Neue Menschen?

Leopold Jacobson war mit der Schauspielerin, Sängerin und Diseuse Annemarie Hegner liiert. Er bestimmte sie zu seiner Erbin und Rechtsnachfolgerin. Über Hegner – nach der Heirat mit dem Musikverleger Alfred Schlee (Universal Edition) trug sie dessen Nachnamen – und ihre Erben dürfte der Jacobson-Bestand auch an das Auktionshaus gekommen sein, von dem ihn die Wienbibliothek im Rathaus erwarb. Dass Aufbewahrung und Besitz sich mutmaßlich mehrmals geändert haben, dürfte zu dem am gezeigten Objekt ablesbaren zerzausten Zustand geführt haben, in dem sich ein Gutteil der zu uns gekommenen Materialien befand.
 

Leopold Jacobson und Annemarie Hegner in jungen Jahren, Fotograf unbekannt.
Wienbibliothek im Rathaus, Teilnachlass Leopold Jacobson, ZPH 1923, 3.5.3.2.

Die 1921 auf dem Blatt Papier gestellte Frage nach dem neuen Menschen wurde bald auf damals unerwartete und unmenschliche Weise beantwortet: Die Nationalsozialisten nahmen für sich in Anspruch, neue Ideen und neue Menschen hervorzubringen. Wie Fritz Löhner-Beda, der Librettist von Léhars „Lustiger Witwe“, wurde Jacobson ein Opfer der Shoah. Nachdem er 1941 in eine „Sammelwohnung“ in der Leopoldstadt verbracht und im August 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert worden war, wurde er dort am 23. Februar 1943 ermordet.


Weiterführende Informationen

Anlässlich des 150. Geburtstages von Karl Kraus entsteht im Wien Geschichte Wiki derzeit ein Portal zu dem österreichischen Publizisten und Satiriker. Am 26. April 2024 eröffnet außerdem die Ausstellung zur Familie von Karl Kraus „Das Familienleben ist ein Eingriff in das Privatleben“. Alle Aktivitäten der Wienbibliothek im Rathaus zum Karl Kraus-Jahr 2024 finden Sie hier.

In unseren Crowdsourcing-Projekt „Wiener Theaterzettel 1930–1939“ können Sie außerdem die Theaterwelt der 30er-Jahre entdecken und uns bei der Erfassung unserer Theaterzettel unterstützen. Diese spannenden Quellen ermöglichen Einblicke in eine zunächst international vielbeachtete und lebendige Wiener Theaterwelt, die durch antiliberale und antidemokratische Tendenzen mit einer zunehmenden Einschränkung des kreativen Spielraums konfrontiert war. Machen Sie mit und schreiben Sie Geschichte!

Literaturhinweis

  • Karin Ploog: Jacobson, Leopold. In: Als die Noten laufen lernten. Geschichte und Geschichten der U-Musik bis 1945. Band 1.2. Norderstedt 2015, S. 353–356.

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