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Zweites Ostern der Ersten Republik

Eine Neuerwerbung

Adalbert Franz Seligmann: Karte zu Ostern, 04.04.1920. Wienbibliothek im Rathaus, H.I.N. 250471, Vorderseite

von Gerhard Hubmann
14. April 2025

Die realistische Zeichnung täuscht beinah über die künstlichen Größenverhältnisse hinweg: Ist das rote Ei so groß oder der Hase besonders klein, dass er rittlings darauf sitzen kann? Jedenfalls hält das gerührt dreinblickende Tier eine passende Geige samt Bogen in den Vorderpfoten. Unter der aquarellierten Zeichnung hat der Wiener Maler Adalbert Franz Seligmann (1862–1945) die Widmung „Zur freundlichen Erinnerung an Ostern 1920“ und seine Initialen gesetzt. Auf der Rückseite befinden sich – vermutlich vom unbekannten Empfänger festgehalten – genauere Angaben zum Anlass: „4/IV 1920 Streichquartett im Atelier Seligmanns“, worauf die Namen der „Ausführenden“ und ausgewählter Gäste folgen, die dem Konzert beiwohnen durften.

Das Andenken mit niedlichem Hasen konnte kürzlich in einem Wiener Antiquariat erworben werden und bereichert Adalbert Franz Seligmanns schriftlichen Nachlass, der seit 1946 in der Wienbibliothek im Rathaus aufbewahrt wird. Unter den insgesamt 1150 Briefen und Postkarten des Nachlasses stammen viele von den illustren Gästen des privaten Osterkonzerts, darunter der Polarforscher Johann Nepomuk Wilczek (1837–1922), Prinzessin Klementine Metternich (1870–1963) und deren Mutter Fürstin Pauline Metternich (1836–1921), eine für ihre Wohltätigkeit wie auch Scharfzüngigkeit europaweit bekannte Salonnière.

 Karte zu Ostern, 04.04.1920. Wienbibliothek im Rathaus, H.I.N. 25047, Rückseite1

Adalbert Franz Seligmann: Karte zu Ostern, 04.04.1920. Wienbibliothek im Rathaus, H.I.N. 250471, Rückseite:
Ausführende“ waren Adalbert Franz Seligmann, ein Fräulein Richter sowie die professionellen Musiker Erwin Dengler und Adolf Hirémy-Hirschl. „Zuhörer unter Anderen“: Fürstin Pauline Metternich-Sándor, Klementine Metternich, Graf Johann Nepomuk von Wilczek und die Schauspielerin Auguste Wilbrandt-Baudius


Fürstin Metternich und Seligmann hatten sich um die Jahrhundertwende kennen gelernt. Klementine Metternich stellte die Verbindung her, da sie 1898 die Kunstschule für Frauen und Mädchen, die spätere Wiener Frauenakademie, besuchte, in der Seligmann in leitender Funktion und als Lehrer tätig war. Zwischen dem Maler und der Fürstin entstand eine Freundschaft, die geprägt war von inspirierenden Streitgesprächen um künstlerische Fragen, in denen die Wiener Moderne im Mittelpunkt stand. Seligmann, der seit 1905 als Kunstkritiker für die „Neue Freie Presse“ tätig war, soll seine dialogischen Feuilletons mitunter aus den Diskussionen mit Pauline Metternich entwickelt haben. Dabei fungierte er als differenzierende, um Verständnis werbende Stimme gegen die harschen Ansichten der Fürstin, die die Avantgarde, besonders in Gestalt Otto Wagners oder der Protagonisten der Sezession, zwar verabscheute, aber eifrig rezipierte.

Seligmann wurde zum gern gesehenen Gast im Metternich’schen Palais in der Fasangasse und auf dem Landgut im ungarischen Bajna; Besuche dort dokumentierte er sogar mit der Fotokamera (s. u. Link zu Wien Museum Online Sammlung). Umgekehrt war auch das Atelier des Malers in der Bäckerstraße 1, das zudem für Kurse der Wiener Frauenakademie genutzt wurde, ein gemeinsamer Treffpunkt, wie eben an jenem Ostersonntag im zweiten Jahr nach Kriegsende, als sich die Elite des untergegangenen Habsburgerreichs zu einem gediegenen privaten Kunsterlebnis zusammenfand. Auf dem Programm des Streichquartetts stand unter anderem die Kaiserhymne.

Am selben Tag war auf der Titelseite der „Neuen Freien Presse“ unter der Überschrift „Zweifel an der Lebensfähigkeit von Oesterreich“ zu lesen, was in französischen Zeitungen „über die Not von Wien“ geschrieben wurde. Staatskanzler Karl Renner berichtete in der „Arbeiter-Zeitung“ über „Getane Arbeit und nächste Aufgaben“ der jungen Republik. Und die „Illustrierte Kronen Zeitung“ brachte eine mehrteilige Karikatur, die den Mangel auf wirtschaftlicher und moralischer Ebene thematisierte. Wie in Seligmanns Zeichnung finden sich darin die zentralen Oster-Motive Ei und Hase: Die Karikatur zeigt vier Figuren mit riesigen Eierköpfen, davon eine in geflickter Kleidung und ausgetretenen Schuhen. Sie steht vor dem Schaufenster eines Fleischhauers, in dem drei kopfüber hängende, gehäutete Kaninchen als „Oster-Braten“ präsentiert werden. Darunter lehnt ein Schild mit der Aufschrift „Kein Rindfleisch“. Der Figur vor dem Fenster ist der innere Kampf ins Gesicht geschrieben: Darf man das, einen Kaninchenbraten zum Osterfest auftischen? (s. u. Links zu ANNO)

Im Atelier Seligmann wurde an diesem Ostersonntag den Gästen auch nicht mit mehr als „Ersatztee und mitgebrachten Bäckereien“ aufgewartet (Wassilko: Fürstin Pauline Metternich, S. 311). Weitere Details verdanken sich einem Außenstehenden, den die Fürstin Metternich eingeladen hatte. Der junge Schweizer Gesandte in Wien, Carl J. Burckhardt (1891–1974), berichtete noch am Abend desselben Tages dem Dichter Hugo von Hofmannsthal (1874–1929), mit dem er seit 1919 in Kontakt war: „Vier alte Musiker spielten. Als sie mit dem, Gott erhalte-Quartett‘ von Haydn begannen, fingen alle plötzlich an zu weinen. Es waren außer mir nur Achtzigjährige anwesend. Die Fürstin ärgerte sich und beendete alles mit einem Spaß. ,Erinnern Sie sich an unsern ersten Ball‘, sagte sie zum Grafen Wilczek. ,Ja‘, antwortete er, ,Sie waren als Marketenderin verkleidet. Ich war damals siebenjährig und Sie sagten mir „Pfui, mit so kleinen Buben tanz ich nicht“‘. ,Nun sehen Sie, auch das haben wir überstanden‘, erwiderte die Fürstin, und damit hörte das Weinen auf.“ (Brief vom 04.04.1920, Briefwechsel, S. 34)

Hofmannsthal hatte Burckhardt bereits darauf hingewiesen, dass besonders die „,erste‘ Gesellschaft“ im Wien der frühen Nachkriegszeit einen gespenstischen Eindruck machte (Brief vom 11.03.1919, Briefwechsel, S. 7). Das Osterkonzert im Atelier Seligmann lieferte dazu eine prägnante Szene – für den 28-jährigen Schweizer wirkte darin selbst Klementine Metternich mit ihren knapp 50 Jahren wie eine „Achtzigjährige“. Der christlichen Ostergeschichte von Tod und Auferstehung entsprechen in dieser sozialgeschichtlichen Miniatur Trauer und Wieder-Mut-Fassen der Gäste: Der Versuch der Elite des alten Wien, verlorene Normalität wiederherzustellen und zu zelebrieren, misslang. Die resolute Gastgeberin schaffte es aber, das große Weinen zu beenden, bezeichnenderweise mit Hilfe einer Kindheitsanekdote aus dem tiefen 19. Jahrhundert.

Quellen und Literatur

  • Adalbert Franz Seligmann: Karte zu Ostern, 04.04.1920. Wienbibliothek im Rathaus, H.I.N. 250471
  • Adalbert Franz Seligmann: Einleitung zu den Briefen und Karten der Fürstin Pauline Metternich nach Jahren geordnet. Wienbibliothek im Rathaus, H.I.N. 110053
  • Adalbert Franz Seligmann: Bajna-Fotografien, Wien Museum (Suche – Wien Museum Online Sammlung)
  • Karl Renner: Getane Arbeit und nächste Aufgaben. In: Arbeiter-Zeitung, Nr. 94 vom 04.04.1920, S. 1f. (ANNO, Arbeiter-Zeitung, 1920-04-04, Seite 1)
  • Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 7273 vom 04.04.1920 (ANNO, Illustrierte Kronen Zeitung, 1920-04-04, Seite 1)
  • Neue Freie Presse, Nr. 19973 vom 04.04.1920 (ANNO, Neue Freie Presse, 1920-04-04, Seite 1)
  • Hugo von Hofmannsthal – Carl J. Burckhardt: Briefwechsel. Hg. von Carl J. Burckhardt. Frankfurt am Main: S. Fischer 1956
  • Theophila Wassilko: Fürstin Pauline Metternich. Wien: Verlag für Geschichte und Politik [1958]

Die Osterkarte im Katalog der Wienbibliothek

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