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Im Lesesaal mit Johann Lehner

Von Tintenfass, Siegellack und dem Stempel der Zensur. Warum die Arbeit in der Bibliothek trotz Digitalisierung unerlässlich ist.

Johann Lehner

ein Portrait von Tanja Paar

"Wie weit ist man gekommen beim Schreiben, ohne einzutauchen ins Tintenfass?" Diese und andere Fragen stellt sich der Germanist Johann Lehner bei seiner aktuellen Arbeit, der Transkription von Handschriften von Ferdinand Raimund in der Wienbibliothek. Derzeit arbeitet er am Originalmanuskript von "Der Alpenkönig und der Menschenfeind" für den dritten Band der historisch-kritischen Raimund-Ausgabe, der, wie schon Band eins und zwei, bei Deuticke erscheinen wird. Lehner ist dabei Lektor und Assistent der Herausgeber.

"Alle acht Stücke von Raimund sind zum Glück im Originalmanuskript erhalten und in der Handschriftensammlung der Wienbibliothek zugänglich", erzählt er. Sein erster Arbeitsschritt ist die genaue Transkription mit allen Korrekturen. Vor uns liegt in einer großen Mappe das Originalmanuskript von 1828. "Raimund hat relativ viel korrigiert und gestrichen, das macht die Transkription nicht leichter", erklärt er. Geschrieben habe Raimund mit Tinte und Feder und wie damals üblich in Kurrent. "Sehen Sie", sagt Lehner, "da sind zwischen den Wörtern immer wieder Punkte, die da grammatikalisch nicht hingehören. Dass gepatzt wurde, passierte selten. Hat Raimund vielleicht die Wörter gezählt und dabei Punkte gesetzt?"

Raimund hatte im Vergleich zu Nestroy eine ganz andere Arbeitsweise. Letzterer habe mit Szenarien gearbeitet und den Handlungsverlauf schon genau festgelegt, bevor er die einzelnen Szenen „sehr systematisch“ abgearbeitet hat. Das weiß Lehner, weil er seit 1991 als Lektor an der historisch-kritischen Nestroy-Ausgabe gearbeitet hatte. Aber zurück zu Raimund: "Ich versuche erst einmal, möglichst 1 : 1 inklusive Seiten- und Zeilenumbruch auf A4-Blättern zu transkribieren", erzählt er. Dabei müsse er eine sehr kleine Schriftart wählen, da die Originalblätter größer als A4 sind. Besonders schwierige Stellen markiert er sich, um sie dann mit der Lupe eingehender zu betrachten. "Es ist eine große Hilfe, dass ich das Original in der Wienbibliothek auch fotografieren darf. So kann ich mir das zu Hause am Bildschirm vergrößern."

Beethoven kaum zu entziffern

Rund 99 Prozent des Textes schaffe er im ersten Durchgang zu entziffern, aber "dieses eine fehlende Prozent kann es in sich haben." Natürlich lese man sich nach und nach auf die Handschrift eines Autors ein, aber besonders bei Streichungen, Änderungen und Ergänzungen kann es sehr schwierig werden. "Obwohl Raimunds Handschrift nicht so schwer zu lesen ist wie zum Beispiel die von Beethoven. Beethoven ist kaum zu entziffern, wenn man nicht eingelesen ist." Drei Monate arbeite er zirka an der 73 Seiten umfassenden Originalschrift, das aber nicht in Vollzeit, sondern drei Arbeitstage in der Woche. Neben seiner Arbeit an der historisch-kritischen Raimund-Ausgabe betreibt Lehner nämlich noch seinen eigenen Verlag, der seinen Namen trägt. "Das ist mein zweites Standbein", sagt er lachend.

Verlag, der seinen Namen trägt

Der Verlag Johann Lehner gibt Werke heraus, die so speziell sind, dass sich kaum ein anderer Verlag dafür fände: "Das hat sich so ergeben", erzählt er: "Studiert habe ich Germanistik und Geschichte auf Lehramt. Nach dem Probejahr habe ich aber begonnen, fürs Künstlerhaus zu arbeiten. Dort war ich von 1985 bis 1990 für die Redaktion der Kataloge zuständig. 1990 wechselte ich zum Verlag Jugend & Volk, wo ich unter anderem mit Walter Obermaier, der ab 1999 Direktor der Wienbibliothek war, an der Nestroy-Ausgabe zusammenarbeitete. Dazu kam dann die Arbeit am Österreich-Lexikon und die Gründung des eigenen Verlags, der bis heute vorwiegend Periodika zu Nestroy, Raimund und Grillparzer sowie Werke zum Alt-Wiener Volkstheater herausgibt."

Siegellack als Klebstoff

Die besonders schwierig zu entziffernden Stellen nehme er sich wieder und wieder vor. "Es gibt auch Stellen, die überklebt sind", erklärt er, "Klebstoff war damals Siegellack, hier erkennt man zum Beispiel den Abdruck der Klebestelle." Das sei auch ein Problem bei der Digitalisierung: Wie dokumentiert man das gut? In der Originalmappe sei das überklebte Stück einfach eingelegt und so beide Versionen sichtbar. "Deswegen bleibt trotz der Digitalisierung die Arbeit in der Bibliothek unerlässlich."

Stempel der Zensur

Aus dem Transkript der Alpenkönig-Handschriften entstehen in Zusammenarbeit mit dem Herausgeber Friedrich Walla einerseits der fertige Haupttext, andererseits die sogenannten Lesarten für den Apparat der historisch-kritischen Ausgabe. Diese Lesarten gibt es zur Originalhandschrift, aber auch zu den "Theaterhandschriften". Die Theaterhandschriften sind jene Abschriften vom Original, die von zeitgenössischen Schreibern der Theater für die einzelnen Inszenierungen angefertigt wurden. "Diese Theaterhandschriften mussten auch bei der Zensurbehörde eingereicht werden", erklärt Lehner. Er zeigt die Fassung von 1830 des Theaters an der Wien – inklusive Stempel der Zensur. "Raimund hat den Konflikt mit der Zensur im Gegensatz zu Nestroy eher gescheut", führt er aus. "Nestroy als Satiriker wollte die Grenzen viel stärker ausloten. Bei Raimund hat die Zensur schon eher im Kopf begonnen."

Er weist auf zwei interessante Korrekturen hin: "Da gibt es eine Stelle im Alpenkönig, wo sich der Diener Habakuk ‚eine halbe Stunde‘ am Dienstmädel ‚vergreifen‘ will; die Zensur hätte hier sittenwidrige Konnotationen beanstanden können. Raimund strich den Satz teilweise, aber nicht ganz. Dem Schreiber der ersten Theaterhandschrift war daher unklar, ob der Satz hineingehört oder nicht, wie an dieser Stelle zu sehen ist. Auch bei einzelnen Namen gibt es Abweichungen. Aus der weiblichen Figur Antonie – so hieß auch die Freundin von Raimund – machte er selbst knapp vor der Uraufführung eine Sophie. Sonst hätte der Autor selbst als Rappelkopf gelesen werden können."

Neben den Manuskripten in der Handschriftensammlung seien auch die historischen Zeitschriftenbestände sehr wertvoll für die editorischen Arbeiten, da sie einen"„guten Überblick über die zeitgenössische Kritik zu den Stücken geben", sagt Lehner. Auch in der Musiksammlung fänden sich wertvolle Notenblätter und Partituren, wie zum Beispiel die Noten zu dem Lied "Brüderlein fein", das Raimund wohl sogar selbst komponiert hat.

Wunsch nach Klimaanlage

"Alle Bestellungen sind sehr schnell da", lobt er, "vor der Digitalisierung der Bestände wurde sogar eigens für uns kopiert, um uns die Arbeit zu erleichtern." Er kommt bereits seit 1990 immer wieder in die Bibliothek, seit zehn Jahren arbeitet er auch regelmäßig im Lesesaal. Eine einzige kritische Anmerkung will er machen: "Im Sommer wird es schon sehr heiß, wenn einmal Geld für eine Klimaanlage da wäre, wäre das wunderbar." Sonst ist er wunschlos glücklich mit seinem Stammplatz im großen Lesesaal, gleich in der ersten Reihe rechts mit Blick zum Eingang: "Da schaue ich genau aufs Österreich-Lexikon, dessen Redaktionsleiter ich ab 1993 war", sagt er und nimmt Platz.

Info: www.verlag-lehner.at

Frühere Ausgaben von Im Lesesaal