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Im Lesesaal mit Nora Mengel

Imperiales "Who is Who": Der "Wurzbach" als die Wiege eines Sozialen Netzwerkes

Nora Mengel

ein Portrait von Tanja Paar

"Ich habe meinen Bachelor in Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder abgeschlossen, da gab es allein schon durch die Nähe zu Polen bereits einen starken Osteuropabezug. Außerdem habe ich 2007 ein Auslandssemester an der Lomonossow-Universität in Moskau absolviert. Meine Mutter kommt ursprünglich aus Russland, aber ich dachte früher nicht, dass das bei meiner Studienwahl einmal eine Rolle spielen wird. Jetzt habe ich mich an der Ludwig-Maximilians-Universität München auf die Geschichte Ost- und Südosteuropas spezialisiert."

Derzeit forscht Mengel in der Wienbibliothek an einem Vergleich zwischen dem  'Biographischen Lexikon des Kaiserthums Oesterreich' von Constantin von Wurzbach und dem 'Russischen Biografischen Lexikon' von Aleksandr Polovcov. "Wurzbach hat 1856 begonnen, sein Lexikon herauszugeben. Er selber war Bibliothekar und eine Sammlernatur und hat akribisch bis 1891 daran gearbeitet; insgesamt gibt es 60 Bände", erklärt sie. Wurzbachs Absicht sei es gewesen, das Habsburgerreich abzubilden, quasi als das "imperiale Who is Who". Beide, der 'Wurzbach' und sein russisches Pendant, hätten "imperialen Charakter", sie dienten dazu " das Gesamtstaatsbewusstsein im ausgehenden 19. Jahrhundert zu fördern, das heißt die jeweiligen Imperien in ihrer Supranationalität, Plurikulturalität und Multireligiösität zu präsentieren.

Briefwechsel

Zu allen im 'Wurzbach' vorkommenden Namen (und darüber hinaus) gibt es in der Dokumentation der Wienbibliothek alphabetisch geordnete kleine Mappen, die sogenannten Wurzbach-Cahiers, in denen biografische Zeugnisse, in erster Linie aus der zeitgenössischen Presse, gesammelt sind. Die Mappen sind derzeit im Seminarraum der Wienbibliothek, wo das Interview mit Nora Mengel stattfand, aufgestellt. "In der Handschriftensammlung sind außerdem Briefwechsel zwischen Wurzbach und zahlreichen der damals noch lebenden Portraitierten erhalten. Der Nachlassverwalter hatte von 10.000 Briefen gesprochen, in der Wienbibliothek  befinden sich an die 2000", erzählt Mengel. Wurzbach selbst habe angegeben, mehr als zehn Sprachen zu beherrschen, die im Archiv befindlichen Briefwechsel seien aber alle auf Deutsch abgefasst, was insofern spannend sei, als Wurzbach sehr gut Polnisch und mit Sicherheit auch Slowenisch sprach. Er ist in Ljubliana geboren.

"Das erste Mal habe ich in der Wienbibliothek von Anfang Januar bis April 2014 gearbeitet", berichtet die  Forscherin, die seit 2009 Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes ist. "Man könnte hier ewig sitzen", betont sie und zieht wahllos eines der Cahiers hinter sich aus dem Regal heraus: "Sehen Sie, R, wie Rollett, Hermann. Wurzbach ging subjektiv vor. Eines seiner wichtigsten Auswahlkriterien war, so führte er aus, nicht nur berühmte, sondern auch denkwürdige Personen vorkommen zu lassen. In erster Linie schöpfte er hierfür aus dem Adel, wenngleich, vom josephinischen Bildungsideal angespornt, nicht nur aus dem Geburtsadel."

Adel verpflichtet

Schon Wurzbachs Vater, Maximilian (senior), sei bemüht gewesen, den eigenen, verloren gegangenen Adelstitel wieder zu erhalten. Constantin Wurzbach gelang es: Er wurde mit dem Prädikat 'von Tannenberg' im Dezember 1873  in den erblichen Ritterstand erhoben. "Oft hat er auch ganze Familien portraitiert", erzählt Mengel weiter. Unabhängig von seiner lexikographischen Tätigkeit habe er sich immer "als Dichter verstanden und gern in Reimen geschrieben". Sie liest den Reim über Rollett vor, den Wurzbach handschriftlich in Kurrent auf das Deckblatt des Cahiers geschrieben hat, der kein sehr schmeichelhaftes Bild zeichnet. "Je später die Bände, desto strenger fallen Wurzbachs Kommentare zu den einzelnen Personen aus", erklärt sie. Die noch lebenden Personen hätten sich zum Teil beschwert - oder Wurzbach darum gebeten, pikante Details wegzulassen - nicht immer mit Erfolg.

"Kein anderes Lexikon wurde ohne Sterbedaten konzipiert", führt sie aus, "Wurzbach lieferte ständig Nachreichungen zu bereits vollendeten Portraits, bis ihm sein Geldgeber, die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften, dies verboten hat. Er wurde ab 1873 vom Beamtendienst freigestellt, um ausschließlich an seinem Werk arbeiten und es fertigstellen zu können. Das ist schon sehr ungewöhnlich." Dafür sei Wurzbach ins bayrische Berchtesgaden, also ins Deutsche Reich, umgezogen. Das sei erstaunlich, da "Wien, als das Zentrum des Habsburger Reichs, der Dreh- und Angelpunkt seines Werkes war."

Inneres Exil

"1867 fand der sogenannte Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn statt. Danach zog sich Wurzbach gewissermaßen immer mehr in ein inneres Exil zurück. Am Kaisertum von 1804 hatte er sein Werk einst ausgerichtet. Nun sah er dieses Ideal zerbröckeln. Im Revolutionsjahr 1848 war er noch liberal eingestellt und unter anderem für die Pressefreiheit eingestanden. Spätestens seit den 1880er Jahren wusste er aber genau, dass das Band zwischen den Personen in der konstitutionellen Monarchie, nicht so fest war, wie er sich das erhofft hatte. Er starb 1893, zwei Jahre nachdem er sein Lebenswerk vollendet hatte. Von seinen Zeitgenossen bekam er dafür nicht die Anerkennung, die ihm seiner Meinung nach zustand; eine nachträgliche Widmung des Lexikons an den Kaiser wurde ihm untersagt. Die Meisten hatten erkannt, dass sein Werk noch während seiner Entstehung anachronistische Absichten verfolgte", sagt Mengel.

Ihre Doktorarbeit an der LMU München wird "Biograph(i)en des Reichs? Zum Werk- und Selbstverständnis der Lexikographen des 'Biographischen Lexikons des Kaiserthums Oesterreich' und des 'Russischen Biographischen Lexikons'" heißen und im Juni 2019 fertig sein.

Keine weißen Nächte in Sankt Petersburg

"Ich habe zuerst in Wien, dann in Sankt Petersburg und danach in Moskau recherchiert", erzählt sie. "Ich bin vom Archiv in der Wienbibliothek richtig verwöhnt worden, weil die Bestellung der Handschriften so schnell und reibungslos verlief. Außerdem gibt es hier  sehr hilfsbereite Kollegen, die einem sogar bei der Entzifferung einzelner Handschriften beistehen. In Sankt Petersburg bin ich von Oktober bis Dezember 2014 geblieben, das war aufgrund der Jahreszeit nicht die beste Wahl. Während sich mir Wien im Frühling von seiner schönsten Seite präsentiert hatte, war die Sonne in Sankt Petersburg ein nur sehr seltener Gast" ergänzt sie und lacht. "In den russischen Archiven herrscht schon eine ganz andere Kultur. Obwohl Vieles bereits online ist, kann man es zumeist nur vor Ort  bestellen und es dauert dann mindestens drei Tage, bis man darauf zugreifen kann. Man darf nichts fotografieren. Man ist dort eher Bittstellerin als willkommene Forscherin."

Dabei sei das historische Archiv in Sankt Petersburg nagelneu, "alles in Marmor", erzählt sie, "ein sehr moderner Lesesaal. Aber wenn man im Nachhinein noch auf  irgendein Schriftstück stößt, das man bestellen mag, braucht es eine weitere, vom Doktorvater persönlich unterschriebene Empfehlung, zur erneuten Bestätigung des Doktoranden-Status. Das ist sehr kompliziert und zeitraubend." In der Wienbibliothek bekomme man aus der Handschriftensammlung, anders als in Russland, nicht nur einzelne Signaturen, sondern ganze Mappen mit zusammenhängenden Schriften ausgehändigt, so habe man eine viel größere Chance, auf unerwartete Funde zu stoßen.

Nach der Defensio im November 2019 will sich die gebürtige Berlinerin ein bisschen Zeit lassen: "Ich sehe mich noch nicht in der PostDoc-Position", sagt sie. "Ich bewundere diejenigen, die sich gleich nach ihrer Promotion an ihre Habilitation setzen." Ihr Doktorvater sei in Bonn, sie könne sich aber auch gut eine außerakademische Arbeit in Berlin oder Wien vorstellen. Zum Beispiel Stiftungsarbeit oder als Referentin. Während Ihres Masterstudiums war Nora Mengel bereits für unterschiedliche Institutionen in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit tätig.

Bitte digitalisieren!

"Die Dokumentation umfasst mit den Wurzbach-Cahiers eine riesige Menge an Material", sagt sie. "Als ich zum ersten Mal hierher kam, stand das alles noch im Dachboden. Es wäre ein sehr anspruchsvolles und für die ganze biographisch arbeitende Community dankbares Projekt, das alles zu digitalisieren und mit einer Texterkennung zu bearbeiten. Oder überhaupt einmal alle Zeitungsausschnitte zu erfassen, derer sich Wurzbach bedient hat. Er hat ja für das Lexikon viel aus Zeitungsartikeln übernommen und nicht immer seine Quellen ausgewiesen. Heute würde man sagen: Der 'Wurzbach' ist die Wiege eines Sozialen Netzwerkes, schließlich tauschte er sich via Brief mit den Personen über deren Biogramme aus. Ich frage mich oft: Wie hätte Wurzbach gearbeitet, hätte er das Internet zur Verfügung gehabt? Das ist eine der erstaunlichsten Erkenntnisse für mich – wie nahe uns das 19. Jahrhundert in seinen Kommunikationsbedürfnissen ist."

Weiterführendes

Wien Geschichte Wiki: Constant von Wurzbach

Frühere Ausgaben von Im Lesesaal