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Im Lesesaal mit Waltraud Schütz

Von Krapfenbäckerinnen, Fischverkäuferinnen und "social class"

Waltraud Schütz

ein Portrait von Tanja Paar

"Ich arbeite hier regelmäßig immer wieder seit 2012", erzählt Waltraud Schütz. Beim Schreiben meiner Magisterarbeit über 'Ehekrisen und Scheidungen zwischen 1945 und 1950 in Wien' habe ich die Wienbibliothek als Arbeitsplatz entdeckt." 2013 schloss die Historikerin ihr Studium mit Auszeichnung ab und wurde Univ. Assistentin (predoc) bei Prof.in Gabriella Hauch. Diese war es auch, die ihr sehr dazu riet, Wien – vorerst – zu verlassen.

"Ich hatte mich am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz beworben und bin genommen worden, ausgerechnet als ich in Wien Assistentin wurde." Sie wagte trotzdem den Schritt nach Italien – und hat es nicht bereut: "Meinen PhD in Florenz und auf Englisch zu schreiben war eine große Herausforderung. Das Studium dort ist sehr international, aber auch sehr verschult. Großer Wert wird auf die Präsentation gelegt, sicher mehr als hier in Österreich." Ihr Hauptbetreuer, Prof. Pieter Judson, habe sie sehr ermutigt, ihr Thema weiter zu fassen. Letztendlich lautete es: "Educational Entrepreneurs and the Politics of Schooling in 19th century Habsburg Society". Ihre Fragestellung dabei war: Wie ist das so genannte niedere Schulwesen abseits der staatlichen Einrichtungen entstanden, und wer waren die AkteurInnen?

"Neben den Ursulinen und den Englischen Fräulein gab es als Kleinunternehmen geführte Privatschulen für Mädchen, vereinzelt auch für Knaben. Mitte der 1840er Jahre wurden allein in Wien und Umgebung 21 weibliche Erziehungsinstitute, 16 Mädchenschulen und 78 Arbeitsschulen betrieben. Auf diesen lag neben anderen Privatschulformen mein Fokus." Anhand einer Vielzahl von Fallstudien hat Schütz sowohl die Verhandlungsprozesse mit Behörden, als auch die schulischen Tätigkeiten der Schulunternehmerinnen beforscht, dabei ging es auch um Einrichtungen, in denen zum Beispiel Nähen und Stricken gelehrt wurde, ein damals üblicher Weg, sein Einkommen zu bestreiten. 1866 schließlich wurde der Wiener Frauen-Erwerb-Verein gegründet, auf den Schütz in einem Kapitel ihr Hauptaugenmerk gerichtet hat und zu dem viele Quellen in der Wienbibliothek liegen.

Ein besonders schönes Zitat stammt aus einem Brief von Iduna Laube an Auguste von Littrow, beide Mitbegründerinnen des Frauenerwerbvereines, vom 26. Juni 1869 (WBR, HS, H.I.N. 155732): "Ich habe die ernste Überzeugung, daß die Naturwissenschaften noch unmittelbarere Bahnen als die Telegraphen für die Correspondenz der Gedanken in die Ferne entdecken werden. Nur schade, daß dann meine lahme Hand längst begraben sein wird u. so muß ich schon meistens mit dem Bleistift mich vertragen, da er mir den Zusammenhang mit theuren Freunden sichert."

Beförderung des Guten und Nützlichen

"Da gibt es zum Beispiel Jubiläumsschriften der diversen Vereine, die neben Einnahmen- und Ausgabenlisten oft die einzigen erhaltenen Quellen sind", erklärt sie. In Niederösterreich bestand im 19. Jahrhundert die "Gesellschaft adeliger Frauen zur Beförderung des Guten und Nützlichen", gegründet 1810. Diese betrieb klassische Armenfürsorge wie praktische Hilfe bei Augenkrankheiten, z.B. für Starblinde, unterstütze aber auch weibliche Bildungsbestrebungen.

Weibliche Handlungsspielräume

Nachdem sie ihr Dissertationsprojekt im Juni dieses Jahres in Florenz abgeschlossen hat, ist Schütz Projektmitarbeiterin bei Prof.in Gabriella Hauch am Institut für Geschichte an der Universität Wien. "Hauch war und ist mir eine große Unterstützung und ich bin froh, dass ich nach fünf Jahren in Florenz nach Wien zurückkehren konnte. Die Wienbibliothek war mir in diesen Jahren des Pendelns ein wichtiger Anker und Fixpunkt." Seit April dieses Jahres arbeitet Schütz an dem Projekt "Unternehmerin, Fabrikantin, Händlerin. Weibliche Handlungsspielräume und Raumaneignungen, 1786-1859" gefördert durch den Jubiläumsfond der Österreichischen Nationalbank.

"Es gibt dazu Grundlagenforschung, aber noch nicht konkrete Fallgeschichten", erklärt sie. "Mich interessieren vor allem die Handlungsspielräume der Frauen." Die Quellenlage dazu sei nicht einfach, da Frauen in diesem Zeitraum z.B. nicht in den Adressbüchern auftauchen, so lange sie verheiratet sind. "Scheidung war zu diesem Zeitpunkt für Katholikinnen nicht möglich. Aber nicht nur Witwen wurden Unternehmerinnen, wie vielfach angenommen wird. Viele waren verheiratet oder `getrennt von Tisch und Bett`."

Sie berichtet über Anna Maria Mayer, die eine Arbeitsschule in Ottakring errichten wollte. Diese musste erst die Behörden überzeugen, das bedeutete u.a. ein "Zeugnis guter Moralität" bei der Polizei erlangen, die Oberaufsicht über das Schulwesen lag bei der Kirche und auch die jeweilige Landesregierung musste zustimmen. Waren diese drei nicht einig, konnte die Studienhofkommission angerufen werden. Mayer war verheiratet, aber getrennt von Tisch und Bett – ein schwieriger Fall in den Augen der Kirche. Nachdem ihr Ansuchen abgelehnt wurde argumentierte sie in ihrem erfolgreichen Rekurs, nicht sie habe sich trennen wollen, ihr Mann sei ein Trinker und nicht unterhaltsfähig, sie habe eine kranke Mutter zu versorgen und im Übrigen habe sie "[...] bereits das nöthige Lokale gemiethet und mehrere Einrichtungsstücke beygeschafft."

Reisebeschreibungen

"Hilfreich sind hier z.B. Reisebeschreibungen aus der Zeit", sagt Schütz. "Dabei lerne ich: Wie hat Ottakring überhaupt ausgesehen zu dieser Zeit? Es war ein rasch wachsendes Dorf mit mehreren hundert Einwohnern und noch nicht eingemeindet. Für Grundlagenforschung dieser Art ist die Wienbibliothek sehr geeignet. Ich empfehle das auch meinen Studierenden. Schaut euch die Adressen, die digitale Kartensammlung an. Wo haben die Leute gewohnt?"  Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ist neben dem Franziszeischen Kataster zum Beispiel der Hand-Atlas der k.k. Haupt- und Residenzstadt Wien von Carl Vasquez interessant.

"In den Adressbüchern oder Sterbematriken sind die Frauen oft nur als Gattinnen eingetragen, Dachdeckersgattin etc., dabei waren sie selbst Unternehmerinnen, Krapfenbäckerin oder Fischverkäuferin", ergänzt sie. Über ihre Arbeitsweise erzählt sie: "Ich habe Listen für jedes Archiv, in dem ich arbeite. Manchmal bestelle ich mir auf gut Glück ein, zwei Briefe und in einem späteren Kontext stellt sich heraus, dass ich das brauchen kann. So habe ich eine über die Jahre wachsende Datenbank. Ich verwendet evernote, da kann ich ganze Dokumente reinziehen. Ich mache auch immer screenshots."

Das sei auch ein weiterer Vorteil der Wienbibliothek, dass man hier viele Dokumente ohne Gebühr fotografieren und scannen dürfe. "Das ist wirklich bemerkenswert" betont sie. "So ist hier alles niederschwellig. Eine Jahresgebühr, wie sie z.B. in anderen Institutionen verlangt wird, ist auch eine Art von gate-keeping. Das ist eigentlich bedenklich, auch wenn einem die Beträge auf den ersten Blick als nicht viel erscheinen mögen."

Ein Bewusstsein für "social class" ist Schütz wichtig. "In Wien war das im Studium eigentlich nie ein Thema", erzählt sie, "erst als ich 2010 für ein Jahr nach Dublin ans University College gegangen bin, habe ich dafür ein Bewusstsein entwickelt."

Sie selbst ist aus einem kleinen Dorf im Burgenland, ihre Eltern sind Landwirte. Role models gab es für die 35-jährige in dem Sinn keine, aber eine ältere Schwester, die an die FH in Wien ging. Schütz ist ausgebildete Grafikerin, "dazu konnte ich die Eltern leichter überreden", sagt sie lachend. Über ein Studium habe sie sich erst danach getraut. "Wenn ich jetzt darüber nachdenke", ergänzt sie, "gab es im Dorf zwei kinderlose Lehrerinnen, unsere Nachbarinnen, bei denen war ich oft, weil die viele Bücher hatten: Die Chronik der Weltgeschichte hat mich besonders beeindruckt. Und jetzt mache ich Bildungsforschung zum 19. Jahrhundert und arbeite über genau solche Frauen."

Druckschriftensammlung

Bei ihren Forschungen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte verwendet Schütz in der Wienbibliothek oft die Druckschriftensammlung. "Ein Theateralmanach aus den 1780er Jahren gibt z.B. Einblick zu Einzelpersonen wie Barbara Fuhrmann, die am Kärntner Tor ein Theater betrieben hat, also auch Unternehmerin war. Die Berichte über sie sind nicht nur positiv, es wird moniert, sie bezahle ihre Schauspielerinnen schlecht und unregelmäßig und hätte besser selbst eine bleiben sollen. Da stellt sich die Frage: war das so, oder handelt es sich dabei um ein klassisches Klischee?"

Pater noster

Auch die Handschriftensammlung sowie die digitale Kartensammlung verwende sie hier oft. "Ich war kürzlich auch mit meinen Studierenden hier", erzählt sie, "Isabella Wasner-Peter hat uns eine ausgezeichnete Führung durch die Bibliothek zum Thema Frauengeschichte geboten und wir durften mit Gerhard Murauer auch unters Dach, wo spezielle Bestände gelagert werden." Eine Besonderheit schätzt sie zudem sehr an der Wienbibliothek: Die Anreise mit dem Pater Noster. "Wenn ich Besuch aus dem Ausland habe, führe ich sie immer hierher ins Rathaus und drehe eine Runde."

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