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Objekt des Monats September 2013: "Es muss kein Auto sein"
Einen ungünstigeren Zeitpunkt hätte die Wiener Fahrradhandlung "Albert H. Curjel" für ihre einmonatige Plakatwerbekampagne wohl nicht wählen können: Ausgerechnet im niederschlagsreichen November 1949 sollten 800 unscheinbare Plakate in Wiener Straßenbahngarnituren die Fahrgäste zum Kauf eines Fahrrads anregen. Die Darstellung einer jungen Frau, die, an einem Damenrad lehnend, ihren Blick verheißungsvoll in die Ferne schweifen ließ, sollte wohl Sehnsüchte nach wärmeren Tagen und ausgedehnten Radtouren suggerieren. Allerdings war an gemütliche Fahrradausritte nicht zu denken und für das Weihnachtsgeschäft war es ein bisschen zu früh. Das Plakat von 1949 ist jedoch unabhängig von seinem zweifelhaften Werbeerfolg ein wertvolles Zeugnis, da es den Zeitgeist widerspiegelt – nicht zuletzt wegen des in Anbetracht des damaligen Konsumverständnisses grotesken Slogans, es müsse ja kein Auto sein.
Waren die Nachkriegsjahre anfänglich noch von massiven Entbehrungen und Versorgungsnöten geprägt, kam die österreichische Wirtschaft allmählich wieder in Schwung und übertraf bereits kurze Zeit später die Produktions- und Erwerbszahlen der Vorkriegsjahre. Dies kurbelte wiederum den heimischen Konsum an, welcher fortan mit amerikanischen Werbestrategien propagiert wurde. Als die Österreicher/innen ihre Grundbedürfnisse befriedigt hatten, machte die Werbung sie auf neue Güter aufmerksam. Der Besitz eines "motorisierten Untersatzes" verankerte sich als "must have" im Bewusstsein der Konsument/innen. Daher erscheint Curjels Slogan sehr ungewöhnlich, da der Händler neben Fahrrädern eben auch Motorräder vertrieb. War dieser Werbespruch eventuell nur an Frauen gerichtet, während die Männer selbstverständlich nach motorisierten Fahrzeugen strebten? Steckten also chauvinistische Tendenzen dahinter? Prinzipiell können die 1940er Jahre ja als die Zeit angesehen werden, in welcher der Höhepunkt und Abschluss des bürgerlichen Geschlechterarrangements des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts vollzogen war. Denn kaum eine andere Zeit zuvor hatte die Frauen erkennen lassen, wie stark sie ohne ihre Männer sein konnten beziehungsweise sein mussten, um unmittelbar nach dem Krieg zu überleben. Ohne die Männer mussten sie mit dem Wiederaufbau beginnen und enorme Verantwortung übernehmen. Um eine heile Familienwelt wieder herzustellen opferten die Frauen aber bald wieder viele emanzipatorische Ansätze und ordneten sich dem konservativen Familienbild unter.
Diese gesellschaftlichen Strömungen lassen sich auf Curjels Plakat jedoch nicht klar ausmachen. Im Gegenteil: Das Puch-Tourenrad befreite die junge selbstbewusste Frau aus dem engen Bannkreis der Städte und eröffnete ihr neue Horizonte. Auf die Darstellung von Einkaufskörben und Gepäckträger wurde gänzlich verzichtet, während der sichtlich gut gefederte Sattel und das große Licht bequeme Radfahrten unabhängig von der Tageszeit bewarben.
Dieses Plakat wird derzeit neben anderen Exponaten aus den Beständen der Wienbibliothek im Rahmen der kleinen Ausstellung "Motor bin ich selbst. 200 Jahre Radfahren in Wien" im Foyer der Wienbibliothek bis 31. Oktober 2013 gezeigt.
Archiv der Objekte des Monats 2013
- August 2013: Der Brand von Mariazell
- Juli 2013: Schwimmkunst für Menschenfreunde
- Juni 2013: 100. Jahrestag der ersten "Zeppelin"-Landung in Wien
- Mai 2013: Auf der Wiener Weltausstellung
- April 2013: Mit dem Zug von Wien nach Triest
- März 2013: Bodo Hell zum 70. Geburtstag
- Februar 2013: Franz Schuhmeier zum 100. Tode