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Objekt des Monats November 2014: "Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!" - Die 700 Vorlesungsprogramme des Karl Kraus 1910–1936
Karl Kraus wollte eigentlich Schauspieler werden. Im Januar 1893 spielte der damals 18-jährige Kraus neben Max Reinhardt in einer Schauspielschulaufführung von Schillers "Die Räuber" den Franz Moor. Sein Scheitern in dieser Rolle machte ihm offenbar rasch klar, dass er lieber doch keine Bühnenlaufbahn einschlagen sollte. Das Theater aber hielt Kraus weiterhin in seinem Bann und er sondierte nun andere Wege, seine schauspielerischen Impulse auszuleben.
Eine Eintrittskarte zur "Vorlesung des Schriftstellers Karl Kraus" am 23. August 1893 macht deutlich, wie früh sich Kraus für die Rolle des Vorlesers interessierte: Im Lesesaal von Bad Ischl las der knapp 19-Jährige Gerhart Hauptmanns neues Stück "Die Weber" vor. Hier kündigte sich bereits sein Anliegen an, vor allem aufklärerischer und sozialkritischer Dramatik in Österreich(-Ungarn) eine Stimme zu verschaffen. In diesem Sinne trat Kraus auch 1905 für Frank Wedekind ein. Mittlerweile hatte er sich als Herausgeber der "Fackel" in Wien einen Namen als kritischer Geist gemacht. Nun wandte er sich kurzfristig wieder dem Theater zu und setzte durch, dass Wedekinds „Die Büchse der Pandora“ wenigstens als Privatveranstaltung uraufgeführt wurde. In Rahmen dieser Veranstaltung betrat er mit einem einleitenden Vortrag und auch in einer kleinen Nebenrolle erstmals wieder die Bühne. Die alternative Kulturszene, die sich fast vollzählig versammelt hatte, war begeistert, den Satiriker "live" zu erleben.
Es dauerte jedoch nochmals fünf Jahre, bis Kraus sich 1910 dazu entschied, regelmäßig als Vorleser aufzutreten. Der Probelauf von drei Vorlesungen fand im Jänner in Berlin statt und war ein unglaublicher Erfolg. Im Mai 1910 las er erstmals in Wien. Im Herbst desselben Jahres trat Kraus bereits in Frankfurt, München und Prag auf. Rasch steigerte er seine Vorlesetätigkeit: Während er bis 1912 zumeist nur zehn bis zwanzig Vorlesungen pro Jahr hielt, waren es in den folgenden 24 Jahren selten unter 30 – oft sogar bis zu 50 – Vorlesungen. Kraus’ Lesungen waren kein exklusives Minderheitenprogramm, sondern bald fixer Bestandteil des Kulturlebens in zentraleuropäischen Städten. Kraus plante seine Lesereisen sorgfältig und nutzte bald den aufkommenden Flugverkehr, um seine Auftritte in verschiedensten Städten reibungslos zu ermöglichen.
Kraus las zum einen aus eigenen Texten, was sein Publikum besonders schätzte. Durch Gestik und stimmliche Akzentuierung wurde seine Satire manchen erst richtig verständlich. Lilli Hauer formulierte das 1912 in einem Brief an Kraus’ Freund Karl Hauer drastischer: „...selbst die Dümmsten bekamen lichte Momente.“ Zum anderen las Kraus gerne aus Werken vor, die seiner Ansicht nach nicht genügend gewürdigt oder falsch verstanden wurden – zu diesen gehörten die Werke Liliencrons, Wedekinds, Raimunds, Shakespeares, Nestroys und später vor allem Offenbachs. Für eine gebildete Jeunesse dorée in Österreich und Deutschland wurde der Vorleser Karl Kraus zur rebellischen Kultfigur gegen den kulturellen Mainstream. In 26 Jahren brachte er es auf insgesamt 700 Vorlesungen, deren minimalistisches Setting – schlichter Schreibtisch, Leselampe, schwarzer Wandschirm, hinter dem sich manchmal eine Klavierbegleitung verbarg – immer gleich blieb. Etwa 170-mal las Kraus im Wiener Konzerthaus, davon rund zehnmal im Großen Konzerthaussaal. Nicht zuletzt wurde seine Vortragstätigkeit zu einer nicht zu unterschätzenden Einnahmequelle für Kraus, auch wenn er Teile der Erträge üblicherweise spendete.
Besondere Brisanz erhielten Kraus’ Vorlesungen im Ersten Weltkrieg. Vorerst plante Kraus, seine Kriegsbegeisterungsverweigerung nur in artikuliertem Schweigen laut werden zu lassen und jedenfalls nicht mehr aus eigenen Werken zu lesen. Am 19. November 1914 informierte er in einer "Anrede" sein Publikum: "In dieser großen Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war [...] da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. […] Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!" – In den folgenden Monaten aber erkannte er, dass gerade die Vorlesungen, aufgrund der weniger genauen Zensur bei Veranstaltungen, ein ideales Forum boten, um bald auch inhaltlich gegen den Krieg aufzutreten.
Um Kraus’ Rolle und Wirkung als Vorleser wieder sichtbarer zu machen, stehen anlässlich des 100-jährigen Jubiläums seiner ersten, berühmten Weltkriegsvorlesung, alle Vorlesungsprogramme in der digitalen Bibliothek zur Verfügung.
Weitere Informationen
Karl Kraus Vorlesungen in der digitalen Wienbibliothek: www.digital.wienbibliothek.at
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