Objekt des Monats Juni 2021: H. C. Artmann & Peter Rosei
Zum 100. bzw. 75. Geburtstag
H. C. Artmann (1921–2000) und Peter Rosei (geb. 1946) verband eine annähernd 30 Jahre andauernde Freundschaft, und da sie altersmäßig genau ein Vierteljahrhundert trennte, verbindet sie auch die Gleichzeitigkeit ihrer runden Geburtstage. Rosei feiert am 17. Juni 2021 seinen 75er, fünf Tage nachdem sich Artmanns Geburtstag zum 100. Mal jährt. In der Ausstellung „‚Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt!‘ H. C. Artmann zum 100. Geburtstag“, die am 9. Juni eröffnet, wird deshalb auch immer wieder von Peter Rosei die Rede sein.
Artmann und Rosei lernten sich um 1970 kennen und waren viel gemeinsam unterwegs. „Im Lauf der Jahre bin ich mit HC in Hunderten Wirtschaften verkehrt: Wir bevorzugten – ursprünglich aus finanziellen Erwägungen – das Einfache und Volkstümliche“, schreibt Rosei in seinem Essay „Fragmentarisches über H. C. Artmann und eine Freundschaft“. Darin schildert er auch eine witzige Episode eines gemeinsamen Urlaubs in Istrien, wo sie mit einem Hotelzimmernachbarn in Konflikt gerieten: Anlass waren unterschiedliche Vorstellungen, Ruhe- und Schlafenszeiten betreffend.
In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre, als Artmann und Rosei in Salzburg bzw. Bergheim bei Salzburg wohnten, unternahmen sie ausgedehnte Ausflüge mit ihren Mopeds, auf denen sie sich sogar für eine ORF-Sendung filmen ließen („Steckbrief“, gesendet am 31. Mai 1977). Später legte sich Artmann eine Motocross-Maschine zu, eine Caballero Regolarità Super 6 M, von der er in dem „für peter rosei und all die anderen“ geschriebenen Buch „Nachrichten aus Nord und Süd“ (1978) schwärmt, um dann stolz anzufügen: „ich bin in letzter zeit tatsächlich so furchtlos geworden daß ich mich ohne mit der berühmten wimper zu zucken aus einer cirkuskanone in die cirkuskuppel schießen lassen würde eine ähnliche wandlung zum tollheroischen überrascht mich auch beim peter rosei“.
H. C. Artmann und Peter Rosei mit Mopeds, 1977.
WBR, HS, ZPH 1317, Nachlass H. C. Artmann, Archivbox
Rosei wiederum widmete seinem Freund das ebenso 1978 erschienene Buch „Von hier nach dort“, in dem ein junger Mann auf dem Motorrad durch Europa zieht. Einem Notizzettel nach zu urteilen, der sich im Vorlass befindet, dachte Rosei auch einmal darüber nach, Artmann in ein Prosawerk „als Figur ein[zu]bauen“, und zwar in den Roman „Wien Metropolis“ (2005). Dieser Plan wurde offensichtlich wieder fallen gelassen. Stattdessen beginnt das Werk mit einer versteckten Reverenz, indem das gründerzeitliche Wohnhaus in der Schönborngasse Ecke Josefstädterstraße, in dem Artmann in seinen letzten Lebensjahren wohnte, symbolisierend in Szene gesetzt wird.
Jetzt aber zum Objekt des Monats Juni 2021, das dieses Mal ein sich ergänzendes Objektpaar ist. Möglich wird die Kombination, weil die Wienbibliothek im Rathaus sowohl den Nachlass H. C. Artmann (ZPH 1317) als auch den Vorlass Peter Rosei (ZPH 1498) besitzt: Am 7. März 1981 schickte Artmann an Rosei eine Postkarte aus Hollywood, die „Herzliche Grüße von mir, Stanie & Ollie!“ nach Wien transportierte. Die 23 Postkarten Artmanns, die sich in Roseis Vorlass befinden, spielen textlich oft mit dem Motiv der Bildseite, bei deren Betrachtung sich manches Rätsel der Grußbotschaften löst. Nicht so bei diesem Stück. Denn hier zeigt die Bildseite lediglich eine Ansicht Hollywoods mit dem ikonischen, in die Landschaft gesetzten Schriftzug; die berühmten Komiker Stan Laurel und Oliver Hardy sind nicht darauf zu sehen. Wer also verbirgt sich hinter Artmanns „Stanie & Ollie“?
H. C. Artmann an Peter Rosei, Postkarte vom 07.03.1981, Los Angeles.
WBR, HS, Vorlass Peter Rosei, ZPH 1498, Archivbox 20, 2.1.19, Bildseite
Um diese Frage zu beantworten, verfügt die Wienbibliothek mit dem Kalenderbuch des Jahres 1981, das sich in Artmanns Nachlass befindet, über eine erstklassige biographische Quelle. Man erfährt darin, dass Artmann am 6. März 1981 mit Peter Turrini von Wien über Frankfurt nach Los Angeles geflogen und am dortigen Flughafen mit „Quasi“, sprich Helmut Qualtinger, zusammengetroffen ist. Damit war das Trio, das Peter Rosei am Tag darauf Grüße nach Wien sandte, komplett, womit man sich auch ausdenken kann, wer mit „Stanie & Ollie“ gemeint war.
Artmann, Qualtinger und Turrini folgten einer Einladung des Germanisten Cornelius Schnauber, der seit 1973 an der privaten University of Southern California sogenannte „German Semesters“ organisierte und alljährlich deutschsprachige Autorinnen und Autoren in Los Angeles versammelte. Wie man dem Kalender entnehmen kann, war der erste Tag des Aufenthalts der Erholung gewidmet. Die gejetlagten Herren aus Österreich nahmen schon am Vormittag „ein paar drinks“, dann besichtigten sie Hollywood, wo sie im Restaurant „Musso & Frank“ zu Mittag aßen. Artmann wählte „Roasted Lamb with mint jelly“. Sein ihn selbst überraschendes Urteil „Exquisit!“ ist nicht nur im Kalender vermerkt, sondern findet sich auch im – grammatikalisch und orthographisch bedenklichen – Postskriptum der Karte an Peter Rosei wieder: „Essen & drinks exquisit, / wieder allen erwartens!“
Links in den Katalog
Archiv der Objekte des Monats 2021
- Mai 2021: "Karl Farkas serviert" - Zum 50. Todestag
- April 2021: Erstdruck eines der bekanntesten Wienerlieder – Das „Wiener Fiakerlied“
- März 2021: Zum 95. Geburtstag von Lotte Tobisch
- Februar 2021: Arthur Schnitzlers „Reigen“
- Jänner 2021: Sänfte und Scheibtruhe - Ein Miniaturkalender von 1766