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Objekt des Monats Februar 2021: Arthur Schnitzlers „Reigen“

Privatdruck, Widmung an Leo Van-Jung mit der Unterschrift Arthur Schnitzlers vom Mai 1900, WBR, Signatur A-123706

Vor 100 Jahren, am 1. Februar 1921 und damit einen guten Monat nach der Premiere in Berlin, fand in den Kammerspielen des Deutschen Volkstheaters die Wiener Uraufführung von Arthur Schnitzlers „Reigen“ statt. Die dadurch ausgelöste mediale Skandalisierung und der öffentliche Tumult mit deutlich antisemitischer Unterfütterung veranlassten den Autor, das Stück für weitere Aufführungen zu sperren. Das Verbot hielt bis ins Jahr 1982.

Entstanden war das Stück bereits ein Vierteljahrhundert vor der Uraufführung im Winter 1896/97. Schnitzler beurteilte es kurz nach der Niederschrift als „vollkommen undruckbar“. Er ließ es dennoch im Jahr 1900 in einer Auflage von 200 Exemplaren auf eigene Kosten drucken, setzte aber ein ahnungsvolles Vorwort hinzu. Darin bat er jene, denen er die Rarität zu schenken gedachte, das Buch tatsächlich als privates Manuskript in Ehren und von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Blauäugig entließ Schnitzler das Werk also nicht in die Welt; ihm war klar, dass „Dummheit und böser Wille immer in der Nähe sind“, wie es im Vorwort heißt. Was sich dann aber 1921 rund um die Berliner und Wiener Aufführungen abspielte, das lag zur Jahrhundertwende außerhalb von Schnitzlers Erwartungshorizont.

Schnitzler gelang mit dem „Reigen“ ein Geniestreich der Theaterliteratur, indem er einen Einakter-Zyklus nach einer genauso einfachen wie originellen formalen Idee durchkomponierte: Zehn Dialoge mit zehn verschiedenen Figuren, von der Dirne bis zum Grafen, die sich paarweise zum Stelldichein treffen. Den Anfang machen die Dirne und der Soldat, der Soldat trifft im zweiten Akt mit dem Stubenmädchen zusammen, das Stubenmädchen anschließend mit dem jungen Herrn usw., bis zuletzt der Graf der Dirne einen Besuch abstattet. Somit ist die Reihenfolge der Einakter unabänderlich fixiert; jene Figur, die in einer Szene neu hinzukommt, taucht in der nächsten wieder auf, um dann endgültig von der Bühne zu verschwinden. Nur die Dirne wird zwischenzeitlich quasi stillgelegt und muss auf ihren zweiten Auftritt mit dem Grafen acht Akte lang warten, damit sich der Kreis am Ende schließt.

Eines von den 200 Exemplaren des Schnitzler’schen Privatdrucks wird in der Wienbibliothek im Rathaus aufbewahrt. Der Autor hat es auf der Seite, die das Vorwort enthält, als „Nr. 57“ ausgewiesen und mit einer Widmung versehen: „Meinem lieben Leo Van-Jung / Arthur Schnitzler / Wien Mai [1]900.“ Leo Van-Jung (1866–1939) gehörte zum erweiterten Jung-Wiener Freundeskreis rund um Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann und Felix Salten und war dabei gewesen, als Schnitzler am Abend des 17. März 1897 das damals noch „Liebesreigen“ genannte Stück im kleinen Rahmen vorlas. Van-Jung, der als Gesangspädagoge tätig war und zugleich über großes technisches und mathematisches Wissen verfügte, war laut Schnitzler das Vorbild für die Figur des Leo Golowski im Roman „Der Weg ins Freie“ (1908), besonders was dessen zionistische Anschauungen betraf. Die israelische Nationalbibliothek bewahrt übrigens einen kleinen Teilnachlass Leo Van-Jungs auf, der laut Bibliothekskatalog „a number of autographs […] of important writers of the ‚Fin de Siècle‘ in Vienna“ enthält, eine Sammlung, die noch der kulturgeschichtlichen Auswertung harrt.

Privatdruck von 1900, WBR, Signatur A-123706
Umschlag des Privatdrucks von 1900
Privatdruck, Widmung an Leo Van-Jung mit der Unterschrift Arthur Schnitzlers vom Mai 1900

>>> Den Privatdruck finden Sie außerdem in unserer Digitalen Bibliothek.

Schnitzlers Bitte um diskreten Umgang mit den Exemplaren des Privatdrucks wurde nicht von jedem respektiert. Die Mundpropaganda um das geheimnisvolle Werk lief schnell an und bald tauchten die ersten gedruckten Rezensionen auf, etwa jene Alfred Kerrs für die „Neue deutsche Rundschau“, in der er von einem „wundervollen Buch“ sprach. Kerr soll es auch gewesen sein, der Schnitzler die Verkürzung des Titels von „Liebesreigen“ auf „Reigen“ empfohlen hatte, da ja „Liebe“ im emotionalen Sinn keine übermäßig große Rolle in dem Stück spiele. Im Jahr 1903 brachte schließlich der Wiener Verlag die erste reguläre „Reigen“-Ausgabe auf den Markt. Eine Verlagswerbung enthält ein Detail, das einen Einblick in die damaligen Lesegewohnheiten ermöglicht: „Buchhandlungen in Sommerfrischen und Badeorten“, heißt es da, „können spielend 100 und mehr Exemplare absetzen.“ Man kann sich gut vorstellen, wie sich die Sommerfrischler einen erotischen Schauer über den Rücken schickten, indem sie Schnitzlers anrüchiges Buch zur Hand nahmen.

Trotz Beschlagnahmungen und juristischen Verfahren, die auf ein Verbot des „Reigen“-Buches bzw. auf dessen Freigabe abzielten, schafften es bis 1921 neun Auflagen mit insgesamt etwa 80.000 Exemplaren in den Handel. Bis dahin war Schnitzler davor zurückgeschreckt, eine Aufführung des Stücks zu genehmigen. Aufführungen des von Schnitzler für "unspielbar" apostrophierten Dramas in Ungarn (1912) und Russland (1917) hatte der Autor nicht verhindern können.

Ab November 1918 erwogen Schnitzler und der Direktor des Deutschen Volkstheaters Alfred Bernau die Uraufführung des orginalen „Reigen“. Kurz darauf begannen auch Gespräche mit Max Reinhardt, der damals in Berlin tätig war, wo die „zehn Dialoge“ am 23. Dezember 1920 schließlich uraufgeführt wurden.

Obwohl die Zensur mit dem Ende des Ersten Weltkrieges offiziell aufgehoben worden war, musste die Aufführung in Wien vom Magistrat der Stadt genehmigt werden – eine Tatsache, die Anlass zu Polemik und Druck der christlich-sozialen Bundesregierung auf Bürgermeister Jakob Reumann geben sollte. Im Wiener Landtag und im Parlament kam es zu Tumulten und sogar zu Handgreiflichkeiten zwischen Befürwortern und Gegnern des „Reigen“. Schnitzlers Satire auf die Doppelmoral der Wiener Gesellschaft hatte damit eine politische Dimension bekommen, mit der sich sogar der Verfassungsgerichtshof beschäftigen musste. Es galt die Frage zu klären, ob das Innenministerium befugt gewesen war, die Aufführung zu verbieten, und Reumann sich dieser Weisung widersetzt hätte. Schlussendlich wurde der Bürgermeister aus formaljuristischen Gründen freigesprochen.

Schon Wochen vor der österreichischen Erstaufführung versuchte die christlich-konservative „Reichspost“ dagegen Stimmung zu machen. Der Kampagnenjournalismus schreckte auch nicht davor zurück, antisemitische Ressentiments gegen den Autor zu schüren. Die erwarteten Proteste während der Premiere, die in Anwesenheit Schnitzlers stattfand, blieben dennoch aus und auch die nächsten Aufführungen konnten ungehindert über die Bühne gehen. Die Kampagne gegen das Stück wurde indes mit unverminderter Härte weitergeführt. Am 7. Februar 1921 kam es zu ersten Störaktionen. Einen Tiefpunkt in der christlich-sozialen Agitation gegen den „Reigen“ und dessen Autor bildete die Ansprache Ignaz Seipels anlässlich der Hauptversammlung des Volksbundes der Katholiken Österreichs am 13. Februar, in der Seipel das „sittliche Empfinden unseres bodenständigen christlichen Volkes“ verletzt sah und gegen das „Schmutzstück aus der Feder eines jüdischen Autors“ und den politischen Gegner in der Person des Zweiten Nationalratspräsidenten Karl Seitz, der „jüdische Machenschaften“ verteidige, wetterte.

Am 16. Februar ging das Kalkül auf: Bereits am Nachmittag hatten sich einige hundert Gegner des „Reigen“, denen unterstellt werden kann, dass sie zum größten Teil nicht eine Zeile Schnitzlers gelesen hatten, zu einer Kundgebung beim Alten Rathaus getroffen. Am Abend stürmte ein Mob die Kammerspiele, warf Stinkbomben, verprügelte das Publikum und verwüstete das Inventar. Beim Versuch, den Saal zu räumen, wurde der Zuschauerraum unter Wasser gesetzt. Es war nicht daran zu denken, die Vorstellung zu Ende zu spielen. In angeblicher Sorge um die öffentliche Ordnung verbot der Wiener Polizeipräsident Johann Schober jede weitere Aufführung des Stücks.

Ausgabe von 1921, WBR, Signatur B-209889
Haupttitelseite der „Luxusausgabe“ von 1921. Gegenüber die Signaturen Arthur Schnitzlers und des Illustrators Stefan Eggeler
Illustration der Szene „Der Dichter und die Schauspielerin“ von Stefan Eggeler, 1921

Im Jahr 1921 erschien auch eine Luxusausgabe des „Reigen“ mit Radierungen von Stefan Eggeler. Schnitzler konnte der Idee des Graphikers, alle Frauen nackt darzustellen, wenig abgewinnen und es bedurfte einiger Überzeugungsarbeit und Kompromisse, um Schnitzlers Zustimmung zu erhalten. Auch die deutschen Behörden zeigten sich nicht begeistert und beschlagnahmten das Werk.

Inzwischen bemühte sich Alfred Bernau darum, den „Reigen“ wieder auf die Bühne der Kammerspiele zu bringen. Unter Polizeischutz wurde das Werk im Frühjahr tatsächlich wieder gespielt, doch von den anhaltenden Anfeindungen zermürbt, verhängte Schnitzler ein Aufführungsverbot. Der Casus „Reigen“ wirkte selbst bei Schnitzlers Sohn noch Jahrzehnte nach: Bei der Parodie „Reigen 1951“ aus der Feder von Helmut Qualtinger, Michael Kehlmann, Carl Merz und Gerhard Bronner verstand Heinrich Schnitzler keinen Spaß und setzte rechtliche Schritte gegen die Verfasser dieses „Machwerks“, wie er es in einem Brief an Franz Theodor Csokor nennt.

Nicht betroffen vom Aufführungsverbot waren Schallplattenaufnahmen und Verfilmungen. Internationale Beachtung fand etwa Max Ophüls Film aus dem Jahr 1951 mit Stars des französischen Kinos. Die Theater hingegen konnten kaum erwarten, dass die Bühnensperre mit 31. Dezember 1981 ablaufen würde. Noch in der Silvesternacht kurz nach 00:00 Uhr fanden völlig skandalfrei die ersten Aufführungen statt.

Max Ophüls: Der Reigen (La Ronde). Filmplakat, Wien 1951. WBR, Signatur P-14442

Wichtige Ausgaben zu Schnitzlers Lebzeiten

  • Arthur Schnitzler: Reigen. Zehn Dialoge. Winter 1896/97. Als Manuscript gedruckt [1900].
  • Arthur Schnitzler: Reigen. Zehn Dialoge. Winter 1896–97. Buchschmuck von Berthold Löffler. Wien / Leipzig: Wiener Verlag [1903].
  • Arthur Schnitzler: Reigen. Zehn Dialoge, geschrieben Winter 1896/97. Mit zehn Illustrationen nach Radierungen von Stefan Eggeler. Wien / Leipzig / Bern: Frisch & Co. Verlag 1921.

Quellen

  • Arthur Schnitzler: Reigen. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Marina Rauchenbacher / Konstanze Fliedl unter Mitarbeit von Ingo Börner / Teresa Klestorfer / Isabella Schwentner. 2 Bde. Berlin / Boston: De Gruyter 2019.
  • Michael Scheffel: Nachwort. In: Arthur Schnitzler: Reigen. Zehn Dialoge. Hg. von Michael Scheffel. Ditzingen: Reclam 2008 (= RUB 18158), S. 135–147.
  • Alfred Pfoser / Kristina Pfoser-Schewig / Gerhard Renner: Schnitzlers „Reigen“. Zehn Dialoge und ihre Skandalgeschichte. Analysen und Dokumente. 2 Bde. Fischer Taschenbuch-Verlag 1993.
  • Heinrich Schnitzler an Franz Theodor Csokor, Brief vom 14.02.1953. Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, H.I.N. 195071.
  • Massenversammlung der Wiener Katholiken in der Volkshalle. Nationalrat Dr. Seipel über den "Reigen"-Skandal. In: Reichspost, 13.02.1921, S. 2.
  • Der "Reigen" polizeilich verboten. In: Illustrierte Kronen-Zeitung, 18.02.1921, S. 3.
  • Verfassungsgerichtshof Österreich: 1921 der "Reigen". URL: 1921: der "Reigen" - Der Österreichische Verfassungsgerichtshof (vfgh.gv.at)

Archiv der Objekte des Monats 2021

Umschlag des Privatdrucks von 1900, WBR, Signatur A-123706
Privatdruck, Widmung an Leo Van-Jung mit der Unterschrift Arthur Schnitzlers vom Mai 1900, WBR, Signatur A-123706
Haupttitelseite der ersten Verlagsausgabe von 1903 mit Buchschmuck von Berthold Löffler, WBR, A-38576
Erste offizielle Ausgabe von 1903mit Buchschmuck von Berthold Löffler, WBR, A-38576
Zwischentitelseite der Szene „Der Dichter und die Schauspielerin“ in der Ausgabe von 1903, WBR, A-38576
Ausgabe von 1921 mit ignaturen Arthur Schnitzlers und des Illustrators Stefan Eggeler, WBR, B-209889
Haupttitelseite der „Luxusausgabe“ von 1921, WBR, B-209889
llustration der Szene „Der Dichter und die Schauspielerin“ von Stefan Eggeler, 1921, WBR, B-209889