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Neuerwerbung der Handschriftensammlung: Gästebuch der "Blauen Spinne"

Willi Forsts Selbstkarikatur und Vierzeiler vom Oktober 1937, WBR, HS, ZPH-1795, HIN-248620.

In der "Kleinen Volks-Zeitung" vom 2. April 1939, die mit der hohnschreienden Schlagzeile "1939 – Parteitag des Friedens" aufmachte, befindet sich ein spannender Beitrag für Freunde detektivischer Arbeit. Der Wiener Graphologe Erik Erwin Hausner wurde bei der Ausforschung eines Anonymus um Hilfe gebeten, der den Redakteur Karl Groß seit einiger Zeit mit Briefen belästigte. In der Nachfolge Sherlock Holmesʼ und dessen österreichischen Pendants Dagobert Trostler filtert Hausner blitzschnell die relevanten Merkmale der verstellten Schrift heraus und zieht namentlich gezeichnete Briefe aus dem Bekanntenkreis des Redakteurs zum Vergleich heran. Bald ist ein Verdächtiger ausgemacht und Hausner kann dem Redakteur seinerseits handschriftliches Anschauungsmaterial vorlegen: "Sehen Sie, da habe ich mein Gästebuch aus der Zeit, da ich noch die ‚Blaue Spinne‘ bewirtschaftete."

Beim gemeinsamen Durchblättern des Buchs meint Hausner, zum Redakteur gewandt: "Sie ersehen aus den Unterschriften, daß meine Gäste hauptsächlich Sportler und Künstler waren, ich ersehe aus ihnen weit mehr." Dem Gästebuch werden in der Folge vier Unterschriften entnommen, an denen Hausner seine Kunst der Handschriften-Deutung vorführt. Damit auch die Leserschaft der "Kleinen Volks-Zeitung" Hausners phantasievollen Assoziationen folgen konnte, wurden die ausgewählten Namenszüge als Faksimile abgedruckt. Kürzlich konnte die Handschriftensammlung der Wienbibliothek ein Gästebuch des Lokals "Blaue Spinne" aus Privatbesitz erwerben und es besteht kein Zweifel: Die Schriftproben aus dem Zeitungsbeitrag stammen aus genau diesem Buch.

Künstlerklause im Kellerlokal

"Künstlerklause / blaue spinne / I., Spiegelgasse 2 […] / Treffpunkt der Wiener Künstlerwelt / Auftreten von: / Erik Erwin Hausner u. Adolf Körner / u. das große Stimmungsprogramm". Mit diesem Wortlaut wurde das Etablissement Ende 1937 in der Zeitschrift "Der Wiener Simpl" beworben. Die Besitzer – der Telepath und Hellseher Hausner, der um 1935 mit seinen Kunststücken das Publikum im Wiener Ronacher zum Staunen gebracht hatte, und der Schauspieler und Komiker Körner – pflegten ihre Gäste mit einer abendlichen Show zu unterhalten und standen dabei auch zusammen auf der Bühne. Das legt zumindest ein nicht identifizierter Schreiber im Gästebuch nahe, der folgende Verse an Hausner richtete: "Trotz deinem Niveau bist du unter dem Niveau der Strasse / Und wirfst den Gästen Körner hin zum Frasse."

Die Formulierung "unter dem Niveau der Strasse" lässt vermuten, dass sich die "Blaue Spinne" im Kellerlokal der Spiegelgasse 2 befand, in den Räumlichkeiten der späteren Marietta-Bar, in der nach dem Krieg Hans Weigel seine Schützlinge der jungen österreichischen Literaturszene um sich scharte; 1967 gründete Gerhard Bronner darin das Cabaret Fledermaus, das als Geburtsort des Austro-Pop gilt und heute als Clubdisco geführt wird. Die Tradition wiederum, in die sich Hausner und Körner mit ihrer "Blauen Spinne" eingereiht hatten, ist dem Gästebuch-Eintrag von Hermann Leopoldi zu entnehmen. Der Kabarettist und Musiker, der mit seinem Bruder Ferdinand und mit Fritz Wiesenthal von 1922 bis 1925 ein berühmtes Kabarettlokal im 1. Bezirk geleitet hatte, hielt die Gründer der "Blauen Spinne" offenbar für würdige Nachfolger: "Früher … / Leopoldi-Wiesenthal / jetzt … / Hausner-Körner / bravo!" Hugo Wiener stellte am 3. Oktober 1937 weitere Analogien her: "Was für Italien der Mussolini, / Und was für Salzburg Toscanini, / Was für den Dichter ist die Minne, / Ist für uns Drahrer die ‚blaue Spinne!‘"

Hausner und sein Kompagnon Körner dürften das Etablissement im Herbst 1937 eröffnet und nach nur wenigen Monaten wieder geschlossen haben. Der erste und früheste von insgesamt etwa 120 Einträgen stammt vom 25. September 1937, der späteste vom 1. März 1938, nicht ganz zwei Wochen vor dem ‚Anschluss‘ Österreichs an das Deutsche Reich. Welche Gründe konkret für die Schließung des Lokals ausschlaggebend waren, ist unbekannt. Etliche Einträge sind aber offene Deklarationen gegen das nationalsozialistische Regime, womit auch der weltanschauliche Geist, der in der "Blauen Spinne" herrschte, zu erahnen ist.

Grünbaum, Heiberg, Pepi Stroh

Einer der bekanntesten österreichischen Kabarettisten der Zwischenkriegszeit reimte seine merkwürdig gebrochenen Verse am 30. September 1937 beispielsweise so: "An Adolf Körner! / Bemerken möchte ich ferner: / Sympathisch, Sie heißen wie Theodor – Körner. / Warum, mich aus der Illusion zu reissen, / Müssen Sie – ausgerechnet – Adolf heissen? / Ansonsten herzlichst / Ihr / Fritz Grünbaum". In dieselbe Kerbe wie Grünbaum, der im Mai 1938 nach Dachau deportiert wurde und dort 1941 starb, schlägt der Schauspieler und spätere US-Exilant Max Willenz am 28. Jänner 1938: "Lieber Adolf Körner! Lass Dir den Namen ändern – Aber den Vornamen!" Auch der Schauspieler Paul Morgan, im März 1938 verhaftet, nach Dachau deportiert und im Dezember 1938 in Buchenwald gestorben, verewigte sich in dem Gästebuch und reimte in ironisch-resigniertem Tonfall: "Sämtliche Spinnen-Vergleiche, Spinnen-Fabeln, / Spinnen-Witze, Spinnen-Parabeln / Sind in diesem Buche schon drinnen – / Ich schweige. Mir blieb nichts mehr übrig von Spinnen …"

Die "Blaue Spinne" wurde aber nicht ausschließlich von späteren Exilanten und Opfern des NS-Regimes besucht, sondern auch von dessen künstlerischen Repräsentanten. Eine Seite des Gästebuchs enthält etwa die Einträge von Kirsten Heiberg, einer norwegischen Schauspielerin, die im Dritten Reich mit Rollen in UFA-Filmen zum Star wurde, und ihrem späteren Mann, dem deutschen Komponisten Franz Grothe. Heiberg lernte Grothe, der schon seit 1933 NSDAP-Mitglied war und später hoher Funktionär in der Reichsmusikkammer wurde, im Herbst 1937 in Wien kennen, wo sie am Theater an der Wien in der Revueoperette "Pam-Pam" zu sehen und hören war. Der Komponist dieses Werks, Max Kolpe bzw. Colpet, trug sich ebenfalls ins Gästebuch der "Blauen Spinne" ein; Colpet, der seit 1935 in Wien lebte, flüchtete 1938 nach Frankreich und überstand den Krieg in einem Internierungslager in der Schweiz.

Derartige Konstellationen, die für die deutschsprachige Unterhaltungsindustrie der Zwischenkriegszeit typisch waren und im Gästebuch ihre Spuren hinterlassen haben, sprach Hausner in dem graphologischen Beitrag in der "Kleinen Volks-Zeitung" freilich nicht an. Hingegen hob er hervor, dass sich in der "Künstlerklause" der "Blauen Spinne" neben Schauspielerinnen und Schauspielern, Komponisten, Sängerinnen und Sängern auch der eine oder andere Sportler und hier besonders Ballkünstler, wie Toni Schall oder Josef "Pepi" Stroh, tummelten. Die schwungvolle Unterschrift des Torwarts Peter Platzer interpretierte Hausner so: "Diese zwei P sind doch in ihren Schlingen nichts andres als zwei Fußbälle, und die zwei Abstriche sind zwei Torstangen!" Die Athleten ließen sich in der Nähe von Vertretern der schreibenden Zunft, etwa Anton Kuh oder Arthur Rebner, nicht lumpen und formulierten durchaus originell, wie der Schwergewichtsboxer Heinz Lazek am 10. Oktober 1937: "Heute einmal statt im Ring zwischen den Seilen, im Netz der blauen Spinne."

"Unsterblich für die 'Weana'"

In den zahlreichen Einträgen, die der "Blauen Spinne" ein langes Bestehen wünschen, schwingt die Sorge mit, dass das Unternehmen unter keinem guten Stern stehen könnte. Fritz Imhoff etwa, der "bei der Eröffnung" des Lokals dabei war, verlieh der Hoffnung Ausdruck, "niemals bei der Schließung desselben anwesend zu sein". Eine heiterere Variante des Glückwunsches setzte Willi Forst am 1. Oktober 1937 unterhalb einer gelungenen Selbstkarikatur: "Dem unerhörten Erik Erwin Hausner, / Dem sym- und telepathischesten Klausner / Der ‚blauen spinne‘, nebst dem Adi Körner / Viel Wurzen heute, morgen und auch ferner." Wie die Besitzer selbst die Erfolgschancen eingeschätzt hatten, vor allem Hausner, der seinen Gästen stets eine schöne Zukunft zu prophezeien pflegte, ist nicht dokumentiert. Jedenfalls regte der Komponist Charles Berndt, der seinen Eintrag zwecks Reim mit bürgerlichem Namen unterschrieb, im November 1937 schon einmal ein Denkmal an: "Mein lieber Adi Körner / du wirst noch unsterblich für die "Weana" / denn Dir gebührt für die Spinne ein Ehrnstein / Karl Bernstein". Mit dem Gästebuch haben sich die Gründer der bis heute vergessenen "Blauen Spinne" selbst einen papierenen Ehren- oder Denkstein gesetzt, der nun der interessierten Öffentlichkeit und Forschung zur Verfügung steht.

Literatur

Archiv der Neuerwerbungen 2019

Fritz Grünbaums Eintrag vom 30. September 1937, WBR, HS, ZPH-1795, HIN-248620.
Kirsten Heiberg und Franz Grothe besuchten die "Blaue Spinne" im Dezember 1937, WBR, HS, ZPH-1795, HIN-248620.
Unter dem originellen Eintrag des Boxers Heinz Lazek verewigte sich der Autor Anton Kuh, WBR, HS, ZPH-1795, HIN-248620.