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Im Lesesaal mit Barbara Denscher

Barbara Denscher

Barbara Denscher: Eine detektivische Ader

ein Portrait von Tanja Paar

"Man muss ein bissl eine detektivische Ader haben", erklärt Barbara Denscher. Und: "Für mich ist die Recherche eine Freude." Zum Glück, war die Germanistin und Anglistin doch jahrzehntelang Journalistin beim ORF-Hörfunk in den Bereichen Kunst und Kultur. Seit 2011 beschäftigt sich die 1956 geborene wieder freischaffend mit ihrem Hauptinteressensgebiet, der österreichischen Kulturgeschichte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Darüber kam sie auch zum Gegenstand ihrer nunmehr abgeschlossenen Dissertation: Dem Schriftsteller und Librettisten Victor Léon.

Ihr Ausgangspunkt war "der noch immer weitgehend vergessene und verdrängte jüdische Anteil an der österreichischen Unterhaltungskultur". Bei der Recherche zu einer Sendung stieß sie auf ihren Forschungsgegenstand. Victor Léon, eigentlich Victor Hirschfeld, geboren 1858 in Senica/Slowakei, gehörte zu den produktivsten Schriftstellern seiner Zeit. Er verfasste Erzählungen, Essays, Hörspiele, Drehbücher und über einhundert Bühnenwerke. Trotzdem gab es zu dem Zeitpunkt, als sich Denscher mit ihm zu beschäftigen begann, also vor fünf Jahren, keine eigenständige Publikation über das Multitalent.

Praxis des Todschweigens

Dabei war Victor Léon eine der dominierenden Persönlichkeiten der Wiener Theaterszene der Jahrhundertwende. Mit seinen Operettenlibretti war er prägend für die Entwicklung des Unterhaltungstheaters: Die "Lustige Witwe", zu der er gemeinsam mit Leo Stein das Textbuch schrieb, brachte es nach der Uraufführung 1905 in nur drei Jahren auf weltweit 18.000 Aufführungen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten kam es für ihn, der jüdischer Herkunft war, 1938 zu einem Berufsverbot, sein Name verschwand umgehend von den Theaterzetteln. Diese Praxis des "Todschweigens" habe seine Bekanntheit nachhaltig beschädigt. Bis heute.

"Den Nachlass an der Wienbibliothek, er umfasst 48 Boxen und 894 Mappen, hatte vor mir noch niemand systematisch durchgearbeitet", erzählt Denscher.  So entstand die Idee zu einer Dissertation, die jetzt, nach ihrer Fertigstellung, über 700 Seiten umfasst. "Mir wurde gesagt, an der Theaterwissenschaft nehmen die gar nicht mehr als 250 Seiten an, aber das war mir egal: Das schulde ich dem Léon, habe ich mir gedacht", so Denscher. "Ich bin sehr froh, dass Professor Stefan Hulfeld Verständnis dafür hatte und voll hinter meinem Projekt stand."

"Der Nachlass war vorgeordnet, wurde aber im Laufe meiner Recherchen neu geordnet. Das war teilweise schon eine Herausforderung. Dafür ist er jetzt nahezu perfekt“, sagt Denscher und lacht. „Zum Glück habe ich sehr viel Unterstützung bekommen und es wusste immer jemand, wo was liegt.“ Es sei sehr aufregend gewesen, mit all den Manuskripten und Briefen zu arbeiten. „Ich habe mit Mappen gearbeitet, von denen ich wusste: die hat niemand aufgemacht seit Jahren.“

Léon konnte, wahrscheinlich durch die Fürsprache von Franz Lehár vor Deportation und Ermordung gerettet werden und bis zu seinem natürlichen Tod im Jahr 1940 in seinem Wiener Haus bleiben. Seine um Vieles jüngere Geliebte, sie hatte Léon und dessen ebenso betagte Ehefrau geschützt, brachte den Nachlass sicher durch den Krieg. 1995/96 wurde er von der Wienbibliothek über ein Antiquariat angekauft.

Unleserliche Handschrift

"Am Anfang war es sehr, sehr mühsam", erzählt Denscher. "Ich konnte Léons Handschrift kaum lesen. Er schrieb in Kurrent - und hat wirklich geschmiert. Einmal schrieb er an einen Komponisten, dem er ein Manuskript schickte: 'Die so miserable Schrift bitte ich gütigst entschuldigen zu wollen.'" Eingelesen hat sie sich dann doch. Und insgesamt fünf Jahre an der Dissertation "Ich textiere Ihnen alles. Leben und Werk von Victor Léon (1858 -1940)" geschrieben. "Im Frühjahr dieses Jahres wurde ich fertig", erzählt sie, "aber es wäre viel noch zu machen." Ihre Dissertation behandle chronologisch Léons Lebenszeit, nicht aber das Weiterwirken seiner Werke. "Sonst wären es 840 Seiten geworden", betont Denscher. Und: "Ich will ja nicht mein ganzes restliches Leben dem Léon widmen." Aber: "Ich wünsche mir, dass es die Basis ist für weitere Forschung."

"Die Stimmung zum Arbeiten ist hier, in der Wienbibliothek, wunderbar", unterstreicht sie. "Ich bin immer zu Beginn der Öffnungszeiten gekommen, ich bin eine Frühaufsteherin." Bedanken möchte sie sich besonders bei Marianne Da Ros und Elisabeth Köhler von der Handschriftenabteilung – schließlich kennt man sich hier auch namentlich.  

Eine große Hilfe war ihr auch Norbert Rubey von der Musiksammlung. "Ich bin ja keine Musikwissenschafterin, also sind immer wieder Musikfragen aufgetaucht", erzählt sie. Zum Beispiel den "Simplicius" betreffend: "Diesen Stoff hat Léon ja in jugendlichem Übermut dem Johann Strauss Sohn eingeredet. Er wollte ja immer etwas Ernstes machen. Der Simplicius war dann aber kein großer Erfolg." Ihr sei nicht so klar gewesen, wie die Abläufe waren zwischen Librettisten und Komponisten: "Der Johann Strauss soll kein leichter Partner gewesen sein für Librettisten, so habe ich von Norbert Rubey erfahren."

Ihre Exzerpte habe sie am Laptop gemacht, hilfreich sei, dass "man die Sachen fotografieren darf" – "eine vernünftige, moderne Servicequalität". Wichtig sei auch der exzellente Onlinekatalog. "Da liegen noch so viele Themen und Schätze", ist sie sicher. Auch viele Kollegen von Léon habe man vergessen, zum Beispiel den Librettisten Heinrich von Waldberg, der als 80-Jähriger im KZ ermordet wurde. "Ich bin kein dezidierter Operettenfan", betont Denscher, "aber meine Hoffnung ist, dass die Forschung stärker darauf aufmerksam wird, was es da noch alles kulturhistorisch Wertvolles zu entdecken gibt."

Info: www.flaneurin.at

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