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Im Lesesaal mit Alys George

Alys George im Lesesaal. Foto: Gregor Kallina

Die Literaturwissenschafterin Alys George forscht in der Wienbibliothek zur Kulturgeschichte des Körpers in der Wiener Moderne. Tanja Paar sprach mit ihr über besondere Entdeckungen, Handapparate und ein Faible für den Paternoster.

"Mein forscherisches Zuhause" nennt die Amerikanerin Alys George die Wienbibliothek. Seit 2011 ist sie für sie "die wissenschaftliche Sammlung, zu der ich immer wieder zurückkehre". Die Arbeit der Literaturwissenschafterin, sie ist Assistant Professor am Department of German an der New York University, hat einen starken Wienbezug. Seit 2010 arbeitet sie an einer "Kulturgeschichte des Körpers in der Wiener Moderne", d.h. sie will diese Epoche der künstlerischen Produktion neu deuten, indem sie "den Körper statt die Psyche als Linse" verwendet. "Sonst wird ja meist Freud bemüht", erklärt sie, "eine stark psychoanalytisch geprägte Deutung herrscht vor". Für sie ist der Körper gleichsam die "Kehrseite der Psyche".

Der Forschungszeitraum für ihr Buch reicht von 1870 bis 1930, inkludiert also die 2. Wiener Medizinische Schule mit ihrem Schwerpunkt Anatomie. George will aufzeigen, dass es ein dichtes Netzwerk zwischen Ärzten und Künstlern gab, und nennt den Wiener Gynäkologen Erwin von Graff als Beispiel, der eng mit Schiele befreundet war. "Er war an der Frauenklinik tätig, also bin ich zuerst an die Medizinuni gegangen", erklärt George. "Enorm geholfen hat mir dann das Tagblattarchiv hier an der Wienbibliothek, das sind Zeitungsausschnitte, geordnet nach Personen. Man wusste nicht, wann und wie er gestorben ist, nur dass er in den 30er-Jahren in die USA emigriert ist. Hier habe ich dann einen Artikel gefunden, dass er in den USA Selbstmord begangen hat."

Wie mit den Oberkellnern

Wichtig für ihr Buch, für das sie bis Juni 2016 das Richard Plaschka-Stipendium des BMWFW erhält, ist vor allem die historische Zeitschriften- und Zeitungssammlung. "Ich habe z.B. eine bestimmte Ausgabe des 'Bildenden Künstlers' gesucht, das war ein kurzlebiges Organ, das um 1910 vom Kunstkritiker Arthur Roessler herausgegeben wurde. Es war unauffindbar, aber eine Bibliothekarin hat es dann doch aufgespürt: Es war mit anderen Heften gebunden worden." Dieses Eingehen auf spezielle Forschungsbedürfnisse schätze sie an der Wienbibliothek ganz besonders. "Die Bibliothek ist kleiner und übersichtlicher als andere, das Personal setzt sich für mich ein, man kennt sich." Mit den Bibliothekaren sei es ja oft wie mit den Oberkellnern: Wenn man sich einmal den Stammkundenstatus erarbeitet habe, könne man mit großem Engagement rechnen.

In Gesellschaft, aber doch allein

Als Stammkundin, die mindestens vier Tage die Woche viele Stunden in der Wienbibliothek im Rathaus arbeitet, hat sie auch einen Lieblingsplatz im ersten, kleineren Leseraum. Hier gibt es nur sechs Sitzplätze. "Es stört mich nicht, dass das ein Durchgangszimmer ist, das macht eine Atmosphäre ein bisschen wie im Kaffeehaus. Man ist in Gesellschaft, aber doch allein. Ich sitze gern am Fenster, damit ich eine Aussicht habe und den Gedanken freien Lauf lasse. Diesen Sommer war es sehr heiß, aber durch die große Raumhöhe und die Fenster, die man öffnen kann, war es hier sehr angenehm. Das ist mir viel lieber als in den USA, wo alles klimatisiert ist", erzählt sie. Jetzt, im Winter, sitzt sie gern an der Heizung, "weil ich leicht kalte Füße bekomme. Ich mag es auch, wenn ich sehe, wie es finster wird. Im Winter vergehen die Tage so schnell, da muss man das bisschen Tageslicht nutzen."

Wenn sie mit der Handschriftensammlung arbeite, sitze sie im großen Lesesaal. Die Wienbibliothek hat z.B. Teilnachlässe zu Altenberg und Loos, aber auch Briefe und Skizzenbücher von Schiele. Wichtig ist für Alys George auch die Plakatsammlung: "Es gibt Werbe- und Theaterplakate. Das ist gut, um einen visuellen Eindruck zu bekommen, was in der Stadt gehangen hat zu der Zeit."

Reiseführer und Stadtpläne

Sie schätzt auch den "tollen Handapparat" mit Referenzwerken wie dem Historischen Lexikon Wiens. "Das ist digitalisiert, aber für mich ist es oft viel schneller direkt im Buch nachzuschlagen", erzählt sie. Überhaupt werde die digitale Sammlung immer weiter ausgebaut. Auch historische Reiseführer und Stadtpläne würden digitalisiert. "Es gibt viel zum Wiener Prater", erklärt sie. "Das war für mich sehr hilfreich, weil ich z.B. über Josef Hyrtls anatomische Wachsmodelle geforscht habe, die im Zuge der Weltausstellung 1873 gezeigt wurden." Mit Hilfe von  Ausstellungsplänen und -zeitungen konnte sie herausfinden, dass diese ganz zentral positioniert waren.

"Ich habe oft eine genaue Vorstellung, von dem was ich suche", sagt sie und lacht: "Meistens ist sie falsch." Im Zuge des Suchens finde man aber oft etwas anderes, das im Endeffekt wertvoller sei. "Mein Projekt ist sehr groß und ausschweifend", erklärt sie. "Es wird je ein Kapitel zu Literatur, Malerei, Fotografie, Stummfilm und Tanz geben. Zum Beispiel Hugo von Hofmannsthal hat ja auch viele Stücke für Ballett und Stummfilm geschrieben. Mich interessieren die kleinen Geschichten in Verbindung mit den großen Narrativen."

Populärkultur

Der von ihr verehrte Carl E. Schorske beschreibe in seinem Standardwerk "Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle" ja vor allem die Hochkultur, aber nicht die Populärkultur der Zeit wie Film, Kabarett und Tanz. Das in den 1980er-Jahren erschienene Werk basiere auf eine Artikelserie aus den 1960er- und 1970er Jahren. "Nach 50 Jahren ist es durchaus Zeit für den Versuch einer neuen Kulturgeschichte dieser Epoche", so George. Mit Wien verbindet sie eine lange Forschungstätigkeit: Schon während ihres Ph.D.-Studiums an der Stanford University war sie im Studienjahr 2005/2006 Fulbright/IFK-Junior Fellow.

2014 hat sie eine Briefedition im Hofmannsthal Jahrbuch zur europäischen Moderne veröffentlicht ("Hugo von Hofmannsthal und the Dial. Briefe 1922-1929"), mit Tanz und Fotografie beschäftigt sie sich u.a. in einem Artikel für den 2016 erscheinenden, von Elisabeth Bronfen und Christiane Frey herausgegebenen Sammelband "Noch einmal anders. Zu einer Poetik des Seriellen."

Den Überblick bei ihrem großen Forschungsprojekt behält George teils durch handschriftliches Exzerpt mit Papier und Bleistift, teils durch neue Technologie: "Ich benütze meine Handycamera mit einem Scanprogramm, das die Aufnahmen sofort in ein pdf verwandelt", erklärt sie. Sie ist "eine Nachteule" und bleibt gern bis "Ladenschluss um 18.30". Im Sommer schätzt sie die Lesepausen im Arkadenhof des Rathauses. Und: "Mit dem Paternoster fahre ich besonders gern. Der ist genauso speziell wie die ganze Bibliothek."

Zur Reihe

Die Reihe "Im Lesesaal mit..." ist eine Kooperation mit dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK).