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Dritte Walpurgisnacht - Karl Kraus dokumentiert das Jahr 1933

Alle unsere gestreamten Veranstaltungen finden Sie auf unserem YouTube-Kanal zum Nachschauen.

Wienbibliothek ON AIR

Lesung mit Karl Markovics: Dritte Walpurgisnacht - Karl Kraus dokumentiert das Jahr 1933

Zwischen Februar und September 1933 dokumentierte Karl Kraus von seinem Wiener Schreibtisch aus die ersten Monate der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und analysierte, wie Faschismus – real und medial – gemacht wird. Auf über 300 Seiten montierte und kommentierte er Zitate und Bilder aus internationalen Zeitungen, Radio- und Filmübertragungen und flocht durchgehend Bezüge zu Shakespeare, Goethe und anderen Dichtern ein. Er beschrieb die ersten Konzentrationslager, öffentliche Demütigungen und Folterungen, die anbiedernden Reaktionen von Journalisten und Intellektuellen – wie Martin Heidegger und Gottfried Benn –, Goebbels Mentalität, die Lügen der Propaganda, den Nazi-Terror in Österreich und noch vieles mehr.

Anfang Mai – also vor 87 Jahren – begann er, kurz nach seinem 59. Geburtstag, mit der Niederschrift seines Essays, der sicher einer der ungewöhnlichsten politischen Texte der deutschsprachigen Literatur ist und der das Vorurteil, dass „man damals ja nichts wissen konnte“, grandios widerlegt. Sein Werk blieb Fragment und wurde zu Kraus‘ Lebzeiten in dieser Form nicht öffentlich. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte dieser polemisch-satirische Text, der posthum den Titel Dritte Walpurgisnacht erhielt, erscheinen. Er gilt heute als eine der hellsichtigsten Analysen von Sprache und Realität des Nationalsozialismus.

Im Rahmen der Kraus-Ausstellung der Wienbibliothek im Rathaus – Geist versus Zeitgeist. Karl Kraus in der Ersten Republik – las Karl Markovics 2018/19 neun packende und beklemmende Passagen der sogenannten Dritten Walpurgisnacht ein.
Ab 11. Mai können Sie diese neun Passagen hier nachhören. Die Lesungen werden Ihnen parallel dazu auf Facebook angeboten.

Ausstrahlungstermine (jeweils 11 Uhr vormittags):

Montag 11.Mai bis Samstag 16. Mai
Montag 18. Mai bis Mittwoch 20. Mai

Sprecher: Karl Markovics
Auswahl und Kommentar: Gerald Krieghofer
Ausschnitte aus: Karl Kraus, Dritte Walpurgisnacht, hg. von Christian Wagenknecht, Frankfurt a M.: Suhrkamp Verlag 1989 und Karl Kraus, Die Fackel 888, Oktober 1933
Tonaufnahme: Oliver Saml, mit freundlicher Unterstützung von W24
Aufgenommen in Wien, am 6. September 2018

Konzept und Text zu Dritte Walpurgisnacht ON AIR: Katharina Prager
Technische Umsetzung für Dritte Walpurgisnacht ON AIR: Katrin Kühnert, Maren Waffenschmid

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„Mir fällt zu Hitler nichts ein“

Dritte Walpurgisnacht S. 12f./S 23
Dauer der Aufnahme inkl. Gast Kommentar: 4:14 Min.

Kraus‘ bemerkenswerte Analyse blieb aus verschiedenen Gründen unbekannt. Zum einen wussten lange nur engste Vertraute, dass Kraus versuchte den „Aufbruch der Hölle“ in Deutschland schreibend zu bewältigen. Zeitgenössische Leserinnen und Leser bekamen schließlich nur etwa ein Sechstel des Textes in der Fackel 890–905 (Juli 1934) zu Gesicht. Diese Fackel wiederum verstörte die meisten von ihnen nachhaltig, da Kraus darin – nach den Februarkämpfen 1934 – vor allem für das Regime Dollfuß und gegen die zerstörte Sozialdemokratie Stellung bezog. Zum anderen erschließt sich der Text ungeübten oder flüchtigen Leserinnen und Lesern – ähnlich wie „Finnegans Wake“ oder „Faust II“ – nicht sofort; Konzentration und Kontext sind zum Verständnis nötig.
Und nicht zuletzt liegt es an dem oft missverstandenen und falsch zitierten ersten Satz des Textes: „Mir fällt zu Hitler nichts ein“, dass vielen unbekannt blieb, wie Kraus eben doch versuchte, das Unbeschreibliche zu beschreiben und seine scheinbar von der Zeit überholten satirischen Methoden noch einmal zum Funktionieren zu bringen. Gerald Krieghofer hat sich eingehend mit dem ersten Satz befasst.

Bildmaterial

Erste Seite unseres Typoskripts der Dritten Walpurgisnacht, Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Nachlass Paul und Sophie Schick, ZPH 1566

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Interview mit Hitler

Dritte Walpurgisnacht S. 62f.
Dauer der Aufnahme inkl. Gast Kommentar: 4:26 Min.

Kraus zitiert hier eingangs aus einem Interview, das Adolf Hitler 1933 einem amerikanischen Journalisten gab und berichtet dann von verschiedenen Brutalitäten, mit denen sich das nationalsozialistische Regime ganz offiziell brüste. Er ist schockiert davon, mit welcher Offenheit und Selbstverständlichkeit es seine Greueltaten selbst dokumentierte und etwa auf Ansichtskarten verbreitete.

Zwar ist für ihn die Situation in Deutschland 1933 nicht mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieg zu vergleichen, aber er sieht doch Bezüge – etwa zum Bild des Henkers Josef Lang nach der Hinrichtung von Cesare Battisti 1916 am Würgegalgen, das Kraus bekanntlich seinen „Letzten Tagen der Menschheit“ voranstellte. Das Bild jenes Münchner Anwalts, der – wie Kraus schrieb – „von radfahrenden Spukgestalten eskortiert“ öffentlich gedemütigt wurde, ist heute noch bekannt.

Zum Weiterlesen

https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_Siegel

Bildmaterial

Bundesarchiv Bild 183-R99542, München, Judenverfolgung, Michael Siegel.jpg; CC BY-SA 3.0 de 
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-R99542,_M%C3%BCnchen,_Judenverfolgung,_Michael_Siegel.jpg

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Greuelpropaganda

Dritte Walpurgisnacht S. 108–110
Dauer der Aufnahme inkl. Gast Kommentar: 8:20 Min.

Weiter dokumentiert Kraus erschütternde und brutale Szenen, die sich 1933 in Deutschland abspielten und etwa von der Arbeiter-Zeitung berichtet wurden, akribisch und ohne Verharmlosung. Er reflektiert, wie das Nazi-Regime– nachdem es vorerst mit seinen Untaten prahlte – solche Berichte nur wenig später als Lügenpropagenda beziehungsweise als „Greuelpropaganda“ von sich wies.

Auf rund 350 überlieferten Zetteln eines kleinen Notizbuches dokumentierte Kraus seine Funde und seine Gedanken dazu. Die Kraus’sche Handschrift gilt als extrem schwer lesbar – hier eine Kostprobe, wobei die Wörter „Gangster“ und „Hitler“ relativ gut erkennbar sind. An der Arbeitsstelle österreichischer Corpora und Editionen (ACE) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften werden diese Zettel derzeit im Rahmen eines größeren Projektes zu „Kraus 1933“ entziffert und transkribiert.

Zum Weiterlesen

https://kraus1933.ace.oeaw.ac.at/

Bildmaterial

Zwei Notizzettel zur Dritten Walpurgisnacht, Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, H.I.N. 176044

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Reichspropagandaleiter Goebbels

Dritte Walpurgisnacht S. 53f.
Dauer der Aufnahme inkl. Gast Kommentar: 3:54 Min.

In seiner aktuellen Kraus-Biographie „Karl Kraus – Der Widersprecher“ hat Jens Malte Fischer Kraus‘ Befassung mit Joseph Goebbels und der Goebbelschen Sprache als „Schlagwortparade“ in der „Dritten Walpurgisnacht“ analysiert. Fischer schreibt: „Kraus fasziniert an Goebbels vor allem, dass hier der Typus des Zivilisationsliteraten, wie ihn die Nazis als jüdisch brandmarken, in Reinkultur vertreten ist. Dass Goebbels als Germanist auch bei dem von Kraus wenig geschätzten Friedrich Gundolf studiert hatte […], war ihm nicht verborgen geblieben, und dass Goebbels dann als Journalist gearbeitet hatte, ebenfalls nicht, und Kraus notiert, dass hier jemand, der in seinen Reden gegen den Kitsch in der Kunst argumentiert, einer Bewegung angehört, deren Wesen aus nichts als Kitsch und Blut zusammengesetzt sei.“ Fischer meint auch, dass es die Angst vor Goebbels Rache an Kraus‘ Leserinnen und Lesern in Deutschland war, die Kraus schließlich von einer Veröffentlichung seines Textes abkommen ließ. (S. 829–831)

Zum Weiterlesen

https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/karl-kraus/978-3-552-05952-8/

Info:
Die an der Wienbibliothek im Rathaus geplante Buchpräsentation wurde auf Herbst verschoben.

Bildmaterial

Cover Fischer Biographie, http://buchhandel.hanser.de/index.asp?nav_page=2&nav_id=657657564&isbn=978-3-552-05952-8

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Radiogespräch mit KZ-Gefangenen

Dritte Walpurgisnacht S. 228–230
Dauer der Aufnahme inkl. Gast Kommentar: 5:00 Min.

Besonders die Aufmerksamkeit, die Kraus schon 1933 den ersten Konzentrationslagern und den mit ihnen verbundenen Praktiken schenkte, erscheint aus heutiger Perspektive bemerkenswert. Besonders, wenn man sich die nach dem Zweiten Weltkrieg gängige Behauptung vor Augen führt, man habe von diesen Lagern nichts wissen können. Kraus bezieht sein Wissen aus dem Radio, aus englischen Zeitungen wie dem Manchester Guardian, aber auch aus deutschen Medien, wie in dem hier geschilderten Beispiel von der „zwanglosen Unterhaltung mit Schutzhäftlingen“, die aus Stuttgart übertragen wurde. In Wien waren einstweilen auch die österreichischen NationalsozialistInnen in ihren Zielen sehr klar und ließen ihre Botschaft von Plakaten leuchten. Kraus‘ größte Sorge war somit, dass in Österreich bald Ähnliches passieren würde wie in Deutschland…

Zum Weiterlesen:

Katharina Prager (Hg.): Geist versus Zeitgeist: Karl Kraus in der Ersten Republik, Metroverlag 2018
erhältlich in der Wienbibliothek im Rathaus

Bildmaterial

Karl  Kraus 1930, fotografiert von Franz Pfemfert. Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, H.I.N. 235438

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Ein Hexengeifer von Sexualhaß

Dritte Walpurgisnacht S. 219–224
Dauer der Aufnahme inkl. Gast Kommentar: 6:41 Min .

Um 1900 hatte Kraus oft selbst antisemitische Argumente und Wendungen gebraucht, die heute befremden. Ab Mitte der 1920er aber war Kraus, der die faschistische Mentalität früh erkannte und in seinen Texten beschrieb, bei den sogenannten „Hakenkreuzlern“ als pazifistischer Schriftsteller jüdischer Herkunft verschrien. Er erhielt nicht nur antisemitische Schmähbriefe und anonyme Drohungen, sondern wurde auch öffentlich in den Zeitungen der republikfeindlichen Rechten diffamiert. Obgleich er Antisemitismus erfuhr und auch gegen ihn Stellung bezog, fehlt in der „Dritten Walpurgisnacht“ eine eingehende Analyse der zentralen Bedeutung des Antisemitismus in der nationalsozialistischen Bewegung und im Deutschland von 1933. Antijüdische Maßnahmen nahm er aber als solche wahr und beschrieb sie mehrfach – hier in Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Frauenbild.

Zum Weiterlesen:

Simon Ganahl, Karl Kraus und Peter Altenberg. Eine Typologie moderner Haltungen, Konstanz 2015
https://doi.org/10.26530/oapen_574830

Bildmaterial

Aus dem Manuskript zu „Warum die Fackel nicht erscheint“, Fackel Nr. 890/905, 1934,  Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, H.I.N. 199999

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Salz in offene Wunden streuen

Dritte Walpurgisnacht S. 138–142
Dauer der Aufnahme inkl. Gast Kommentar: 7:46 Min.

Eine der wahrscheinlich zentralsten und am häufigsten zitierten Passagen der „Dritten Walpurgisnacht“ ist jene, in der Kraus beobachtet und erklärt, wie in der Sprache des Dritten Reichs und in der NS-Presse „die Phrase zur Tat“ aufbricht, also wie Metaphern wieder wörtlich genommen werden mussten und sich „mit dem Blute“ füllen, „das einst ihr Inhalt war“…

In ähnlich metaphorischer und eben nicht metaphorischer Weise machten die NationalsozialistInnen übrigens auch ihren Umgang mit dem Gesetz und dem Rechtsstaat auf sehr anschauliche Weise präsent, wie das Foto zeigt, das Kraus an einer anderen Stelle in seinem Text ebenfalls beschrieb…

Zum Weiterlesen:

https://ghdi.ghi-dc.org/sub_image.cfm?image_id=1906&language=german

Bildmaterial

Karl Kraus fotografiert von Charlotte Joel-Heinzelmann. Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, H.I.N. 235411.

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Martin Heidegger / Die Sprache bringt es an den Tag

Dritte Walpurgisnacht S. 71./ S. 265
Dauer der Aufnahme inkl. Gast Kommentar: 5:17 Min.

Ende Mai 1933 fiel Karl Kraus, der sich sonst nicht für (akademische) Philosophie interessierte, wohl erstmals der Universitätsprofessor Martin Heidegger auf.  Heidegger war im April 1933 Rektor der Freiburger Universität geworden war und gab sich in seiner Antrittsrede „Die Selbstbehauptung der Deutschen Universität“ klar als Unterstützer des Nationalsozialismus und seiner Propaganda zu erkennen. Zusammen mit dem deutschen Lyriker Gottfried Benn, dem ebenfalls Seiten der „Dritten Walpurgisnacht“ gewidmet sind, wird Heidegger symptomatisch für das Versagen und den Verrat der Intellektuellen und der Intellektualität an sich. Kraus macht sich hier über die Inhaltslosigkeit von Heideggers Aussagen auf verschiedene Weise lustig, wenn er sie neben Werbung für Berna-Käse stellt oder meint, dass die Verbindung von Blut und Erde, die „diese abgründigen Worthelfer der Gewalt“ beschworen, doch eigentlich Tetanus verursachen müsse…

Zum Weiterlesen:

Auf unserer Projektbeschreibung zum Karl-Kraus-Archiv finden Sie weitere interessante Informationen zum Thema. >

Bildmaterial

Das  Arbeitszimmer von Kraus in der Lothringer Straße 6. Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, H.I.N. 235414.

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Man frage nicht

Die Fackel 888, 1933, S. 4
Dauer der Aufnahme inkl. Gast Kommentar: 2:25 Min.

Im Sommer 1933 starb mit Adolf Loos einer der wichtigsten Freunde von Kraus. Kaum eine Woche später wurde Kraus bekannt, dass der Schriftsteller Theodor Lessing wohl durch deutsche Agenten ermordet worden war. Lessings Ermordung gehörte wahrscheinlich zu den auslösenden Momenten, warum sich Kraus letztlich gegen die Veröffentlichung der „Dritten Walpurgisnacht“ als Fackel-Heft 888–907 entschied. Er fürchtete Verfolgung und Ermordung nicht nur seiner selbst, sondern auch jener Menschen, die die Fackel lasen und verbreiteten.

Anfang Oktober erschien nach über neun Monaten Schweigen nur die schmale Fackel 888 mit der Grabrede auf Loos und dem bekannten, anspielungsreichen Gedicht „Man frage nicht“. Kraus hatte es in diesem Sommer auf Schloß Janowitz, wohin er sich seit Jahrzehnten zu seiner Freundin Sidonie Nádherná von Borutín zurückzog, geschrieben. Dieses Gedicht, das nach Monaten des Schweigens erschien, interpretierten damals wie heute fälschlicherweise viele dahingehend, dass Karl Kraus an einer Stellungnahme zum Nationalsozialismus gescheitert war.

Zum Weiterlesen:

Karl-Kraus Online

Bildmaterial

Fotografie von Karl Kraus im Park von Schloss Janowitz, 1933. Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, H.I.N. 235409.