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Objekt des Monats März 2022: Die Liebe zum Wasser

Zum 125. Geburtstag und 60. Todestag von Sibylla Blei

Stephan Mautner: Zeichnung zum 30. Geburtstag von Sibylla Blei, 1927. Scrapbook, ZPH 1490, Wienbibliothek im Rathaus

Das Wasser war ihr Element. „[I]n ihm zu tauchen, es mit dem Segel zu befahren, seine Bewohner mit der dreigezinkten Gabel wie eine Jägerin zu stechen“, sei die große Leidenschaft ihres Lebens gewesen, so umschreibt es ihr Vater, der Schriftsteller Franz Blei (1871–1942), in seinen Memoiren „Erzählung eines Lebens“ (1930).

Sibylla Blei, vor 125 Jahren am 22. März 1897 in Zürich geboren und von klein auf Billy genannt, war eineinhalb Jahre alt, als sie mit ihren Eltern auf einem Schnelldampfer den Atlantik überquerte, weil die Mutter Maria Blei (1867–1943) in Philadelphia ein Doktoratsstudium der Zahnmedizin absolvierte. Diese Schifffahrt, die im Diarium der Mutter vor allem mit tagelangen Stürmen und elendiger Seekrankheit in Verbindung gebracht wird, inszeniert der Vater als Rahmen für die Verlobung zwischen der kleinen Billy und dem Meer.

Wasserszenen

Wasserszenen prägen auch unser Objekt des Monats. Es ist ein mittelformatiges, halbledernes Gästebuch, das Sibylla Blei 1927 anlegte und bis Ende der 1950er-Jahre weiterführte, als sie schon lange mit ihrer Lebensgefährtin Sarita Halpern (1898–1974) im portugiesischen Costa da Caparica lebte. Damit wurde das Buch auch zwangsläufig ein Dokument des europäischen Exils in der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Da sich in Bleis Freundeskreis viele Künstler und Künstlerinnen tummelten, enthält es eine Menge Zeichnungen, Porträts und Bildgeschichten. Mit mehreren Proben vertreten sind die Maler Karl Fränkel (1895–1964), Alfred Gerstenbrand (1881–1977), Stefan Hlawa (1896–1977) und besonders der Unternehmer und Maler Stephan Mautner (1877–1944). Mautner durfte das Buch auch mit einer Zeichnung zu Sibylla Bleis 30. Geburtstag eröffnen. Das Blatt zeigt die junge Frau in rasanter Fahrt auf einem Segelkatamaran, Ruder und Segelleine fest in Händen, mit dabei ein Affe, ein Papagei und zwei Katzen; ein Grammophon ganz vorne scheint die seltsame Crew anzukündigen oder ihr den Weg freizutrompeten.

Im Tagebuch, das Maria Blei für ihre Tochter von 1897 bis 1919 führte, wird Billy von Anfang an als willens- und durchsetzungsstarke Persönlichkeit geschildert. Nach schwierigen Schuljahren in München, wo die Familie nach dem USA-Abenteuer lebte, gelang es erst in der reformpädagogischen Freien Schulgemeinde Wickersdorf Billys Temperament zu kanalisieren und auf das Gebiet der Schauspielerei zu lenken (1908–1912). Während des Ersten Weltkriegs kam ihre Karriere in Gang, sie gehörte Ensembles von Max Reinhardt (1873–1943) in Berlin und Wien an, war 1918 mit einem Fronttheater unterwegs und spielte in einigen Filmen mit. Ihre Schauspiel- und Modelkarriere versandete aus unbekannten Gründen im Lauf der 1920er-Jahren. Ab 1917 war Wien Sibylla Bleis Lebensmittelpunkt, wo sie den wohlhabenden jüdischen Bankier Ernst von Lieben (1875–1970) kennen lernte und 1926 heiratete. Die Ehe war zwar nur von kurzer Dauer, zwischen den beiden blieb aber ein freundschaftliches Verhältnis bestehen, was für Blei eine monatliche „Apanage“ bis ins Kriegsjahr 1941 mit sich brachte. In dem Gästebuch ist Ernst von Lieben eine oft dargestellte Gestalt.

An der Oberen Alten Donau 192

Dass immer wieder Wasserszenen in dem Buch vorkommen, hat vordergründig mit den Wohnorten zu tun, an denen Sibylla Blei ihre Gäste empfing. Bis Mai 1932 bewohnte sie die Villa „An der Oberen Alten Donau 192“, die über eine gemauerte Badestelle verfügte. Von dort setzte etwa Irene Kafka zögerlich zum Sprung in die Donau an, festgehalten von B[illy]. B[lei]. in einer neckischen Zeichnung mit dem Titel „Irene Kafka geht baden …“. Von Irene Kafka (1888–1942), einer damals bekannten Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen, sind im Gästebuch auch zwei Gedichte auf Franz Blei zu dessen 60. Geburtstag eingeklebt. Das „Handschreiben“ vom 18. Jänner 1931 basiert auf der merkwürdigen Koinzidenz, dass sowohl das Deutsche Reich als auch Franz Blei am selben Tag des Jahres 1871 „geboren“ wurde. Die vorletzte von sechs Strophen lautet:

„Und wandern sie manchmal im Dunkeln gleich
Mit sorgenschwerem Gesichte, –
Der Dr. Franz Blei und das Deutsche Reich,
Sie schreiten doch beide zum Lichte!“


Villa „An der Oberen Alten Donau 192“, 1927. Kleines Fotoalbum, ZPH 1490, Wienbibliothek im Rathaus

„Die braune Pest“

Auf welcher Seite der Geschichte die Freundinnen und Freunde Sibylla Bleis standen, geht aus dem Gästebuch klar hervor. So enthält es eine Zeichnung des Schauspielers und Autors Ernst Morgan (1902–1957) mit dem Titel „Die braune Pest“. Allein diese Karikatur, die einen grimmigen, mit Pistolen und Säbel bewaffneten Trupp in verschiedenen NS-Uniformen zeigt, machte das Buch zu einem lebensgefährlichen Gegenstand in nationalsozialistischen Herrschaftsgebieten. Ernst Morgan starb, wie Franz Blei, im US-amerikanischen Exil. Von Irene Kafka und Stephan Mautner, dem Schöpfer des Porträts der segelnden Billy, wird angenommen, dass sie in Konzentrationslagern ermordet wurden.

„Am Ausgangskanal aller europäischen Emigration”

Sibylla Blei ging bereits 1932 gemeinsam mit ihrem Vater nach Mallorca, das vorerst weit weg von politischen Unruhen und nationalsozialistischen Drohgebärden lag und außerdem ein günstiges Leben in angenehmster Atmosphäre bot. 1936 kehrte sie, durch den Spanischen Bürgerkrieg veranlasst, nach Wien zurück, um die Stadt schließlich im Oktober 1937 endgültig zu verlassen. Sie folgte ihrer Lebensgefährtin Sarita Halpern, die sich unterdessen in Costa da Caparica, einem Badeort südlich von Lissabon, niedergelassen hatte. Sibylla Blei nannte diesen Küstenabschnitt 1941 in einem Brief an ihren Freund Hermann Broch (1886–1951) den „Ausgangskanal aller europäischen Emigration”. Blei und Halpern verließen Costa da Caparica nicht. Sie gründeten dort ein Geschäft für Kosmetikartikel unter der Marke „Sibylla Lieben“ und blieben bis zum Tod Sibylla Bleis am 14. März 1962 zusammen.

Literatur

Link in den Katalog

Archiv der Objekte des Monats 2022

Billy Blei mit Chameleon, vermutlich 1927. Kleines Fotoalbum, ZPH 1490, Wienbibliothek im Rathaus
Villa „An der Oberen Alten Donau 192“, 1927. Kleines Fotoalbum, ZPH 1490, Wienbibliothek im Rathaus
Billy Blei: Irene Kafka geht baden …, Zeichnung, um 1930. Scrapbook, ZPH 1490, Wienbibliothek im Rathaus
Irene Kafka: Handschreiben an Dr. Franz Blei am 18. Januar 1931. Scrapbook, ZPH 1490, Wienbibliothek im Rathaus