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Teilnachlass Robert Scheu

"Auf einem Dachgarten in Prag", Robert Scheu, 1918. Die Fotografie befindet sich in einem Album über Scheus Aufenthalt in Böhmen, von dem sein Buch "Wanderung durch Böhmen am Vorabend der Revolution" (Leipzig 1919) handelt (ZPH 1673, 3.12.31).

Von Goethe ist ein Ausspruch überliefert, der in einem auf Englisch geführten Gespräch gefallen sein soll: "I never knew a more presumptuous person than myself." Er sei also der am meisten von sich selbst überzeugte Mensch, den er kenne. Hätte Goethe diese Einschätzung revidiert, wenn die Zeitläufte ein Treffen zwischen ihm und dem Wiener Robert Scheu (1873–1964) ermöglicht hätten?

Wer war dieser Robert Scheu, der sich die Ignoranz, mit der ihm die Mitwelt vermeintlich begegnete, mit seiner "turmhohen Überlegenheit" erklärte? Anlässlich einer Ausstellung, die die Stadt Wien dem 85-Jährigen widmete, zählte die "Arbeiter-Zeitung" geduldig Scheus Berufe auf (Schriftsteller, Dramatiker, Satiriker, Publizist, Jurist, Volkswirt, Reformer, Politiker und Psychologe) und beschrieb den Geehrten als "Bürger-, Amts-, Redaktions- und Gesellschaftsschreck, seinen Freunden eine geliebte Nervensäge, den Jüngeren das Vorbild eines prachtvollen Originals, der nie etwas sagte, was er sich nicht gedacht hat, allerdings auch nichts, was er sich gedacht hat, jemals unausgesprochen ließ". Viele der damaligen Ausstellungsstücke sind mit der Erwerbung des 32 Archivboxen umfassenden Teilnachlasses 2015 in den Bestand der Wienbibliothek eingegangen (ZPH 1673).

Robert Scheu wurde 1873 im niederösterreichischen Schönau geboren; sein Vater, der Komponist Josef Scheu, und seine beiden Onkel Andreas und Heinrich Scheu waren frühe Protagonisten der Arbeiterbewegung. Robert besuchte das Akademische Gymnasium und absolvierte ein Jus-Studium an der Universität Wien, das er 1896 mit der Promotion abschloss. Seit 1899 im k.k. österreichischen Handels-Museum tätig, entfaltete Scheu neben seinem Brotberuf eine umfassende schriftstellerische Tätigkeit und großes gesellschaftspolitisches Engagement. Er schrieb Theaterstücke, formulierte ein demokratisches Programm unter dem Schlagwort "Culturpolitik" (Wien 1901) und gründete die dazugehörige Kulturpolitische Gesellschaft, leitete Enqueten zur Mittelschulreform oder zum Eherecht. Für den "Simplicissimus" und das "Prager Tagblatt" schrieb er ab 1911 über zwei Jahrzehnte hinweg die satirische Politik-Kolumne "Chronik der Weltereignisse". Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter den gediegenen Ratgeber "Der Weg zum Lebenskünstler" (Berlin 1927), und nahm jede Gelegenheit war, seine originellen Vorschläge und Konzepte an den gerade herrschenden Mann zu bringen.

Der Teilnachlass enthält mehrere Dutzend Korrespondenz-Konvolute, die viele seiner Interventionen, Engagements und Geschäfte dokumentieren. Sie zeigen Scheu als umtriebigen Akteur etwa in der Österreichischen Friedensgesellschaft, als Propagandist seiner volkswirtschaftlichen Ideen (Stichwort Silber, Mineralöl, Waren-Clearing), als Bühnenautor und Journalist und natürlich in dem einen oder anderen privaten Rechtsstreit, den der Jurist Scheu wortgewaltig ausfocht. Zu diesen Konvoluten, in denen sich überraschenderweise ein Brief von Felix Salten befindet, kommen Poststücke von mehr als 600 Briefpartnern, darunter die SchriftstellerInnen Ernst Benedikt, Rudolf Brunngraber, Franz Theodor Csokor, Oskar Maurus Fontana, Michael Guttenbrunner, Fritz Herzmanovsky-Orlando, Heinrich Mann, Helene Scheu-Riesz (Scheus Schwägerin), Herta Staub und Otto Stoessl, die darstellenden KünstlerInnen Otto Tressler, Josma Selim und Grete Wiesenthal sowie zahlreiche namhafte Wissenschaftler und Politiker. In der letzten Gruppe ragt ein Brief des tschechoslowakischen Außenministers Jan Masaryk hervor, den Scheu gerne als eine Art Empfehlungsschreiben in Umlauf brachte. Die wertvollsten Korrespondenzstücke stammen aber aus Scheus prominentem Wiener Bekanntenkreis, zu dem Eugenie und Hermann Schwarzwald, Adolf Loos und Karl Kraus gehörten.

Die kulturgeschichtliche Bedeutung Robert Scheus, ungeachtet seiner gepflegten Selbstüberhöhung, unterliegt heute zumindest bei Kraus-Spezialisten keinem Zweifel. Scheu lieferte zahlreiche Aufsätze für die "Fackel" und war in engem Kontakt mit dem Meister, was seine gut dreißig Briefe, die die Wienbibliothek im Karl Kraus-Archiv aufbewahrt, eindrücklich zeigen. Zum 10-jährigen Bestehen der "Fackel" legte Scheu auch eine erste kleine Monographie über die Zeitschrift und deren Herausgeber vor, die gedanklich und stilistisch so überzeugte, dass Kraus sie in der "Fackel" abdruckte (Nr. 277–278, 31. März 1909). Die Summa seiner Leistungen während ganzer "sechzig Jahre im öffentlichen Leben" stellte Scheu übersichtlich in dem Bericht "Mein Anteil am Zeitgeschehen" dar.

Der hohen Selbsteinschätzung entspricht die Menge und Qualität der Selbstdokumentation, mit der Scheu sicher auch bezweckte, seine im Ganzen unglaublichen Selbstzuschreibungen schwarz auf weiß belegen zu können. Neben dem umfangreichen Manuskriptarchiv, das hunderte Gedichte und Aphorismen Scheus, vor allem aber seine Theaterstücke und Prosa enthält, stellte er mehrere Alben mit eingeklebten Zeitungsausschnitten zusammen, die seine enorme Textproduktion und Themenvielfalt deutlich vor Augen führen. Der Fotobestand mit insgesamt 300 Aufnahmen bedient ebenso den Anspruch des So-ist-es-gewesen, insbesondere das Album über Scheus Aufenthalt in Böhmen 1918, den er immer wieder als Beispiel für seine großen diplomatischen Errungenschaften anführte. Viele Fotos vermitteln auch einen Eindruck vom Privatmann Robert Scheu, den man aber besonders in den vielen Notiz- und Tagebüchern sowie im Briefwechsel mit seiner ersten Frau Loe (geb. Leopoldine Lazinka) kennenlernen kann. Von Loe Scheu bietet der Teilnachlass eine Reihe unveröffentlichter Erzählungen und autobiographischer Schriften, die einer kritischen Sichtung harren.

Wer es einst wagen wird, Robert Scheu eine Biographie zu widmen, muss nicht nur mit Scheus präsumptuosen Charakter zurechtkommen und ein über 90-jähriges Leben reich an äußeren Ereignissen aufarbeiten, vor allem ist auch ein kundiger Umgang mit der Gabelsberger Kurzschrift gefragt, in der ein großer Teil der persönlichen Aufzeichnungen geführt ist. Auch darin war Scheu ein beglaubigter Meister: Denn der Teenager hatte sich 1890 den 1. Preis beim stenografischen Wettschreiben des Gabelsberger Stenografen-Central-Vereins erkämpft. Die Urkunde hierzu ist erhalten, die Umstände des souveränen Sieges sind in dem autobiographischen Text "Aus früheren Tagen" nachzulesen.

Archiv der Neuerwerbungen 2016

Persönliches Briefpapier, das Robert Scheu mit einer Aufzählung diverser Titel und Funktionen handschriftlich anreicherte (ZPH 1673, 3.9.7).
Erste Seite der handschriftlichen Fassung von Robert Scheus Bericht "Mein Anteil am Zeitgeschehen" (ZPH 1673, 1.4.150.3).
"Geschäfts-Vormerk-Blätter" 1901, 12. September: Robert Scheu setzte den starken Eindruck, den die erste Begegnung mit seiner späteren Frau Loe (bzw. Lô) hinterlassen hatte, mittels Sternschnuppe ins Bild (ZPH 1673, 3.10.1).