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Objekt des Monats Juni 2020: "Wien begrüsst seinen heimgekehrten Altbürgermeister"

"Wien begrüsst seinen heimgekehrten Altbürgermeister (TF-009604)

Vor genau 75 Jahren, im Juni 1945, kehrte der Bürgermeister des Roten Wien, Karl Seitz, nach Wien zurück.

Unser Objekt des Monats zeigt den ehemaligen Bürgermeister Karl Seitz und den damals amtierenden Bürgermeister Theodor Körner auf dem Rathausplatz. Das Foto, das darüber montiert ist, gibt einen Eindruck über die Menschenmenge, die gekommen war, um den Altbürgermeister zu begrüßen. Die beiden Bilder wurden 1945 im Bildbändchen "Karl Seitz: Mann des Volkes, Mann der Herzen" (A-117390) publiziert. Der Anlass dafür war ein durchaus erfreulicher: Karl Seitz war nach dem Zweiten Weltkrieg ins befreite Wien zurückgekehrt, wo ihm die Bevölkerung am 23. Juni 1945 einen triumphalen Empfang bereitete.

Formell war der ehemalige Lehrer und sozialdemokratische Politiker Karl Seitz (1869 – 1950) am Höhepunkt seiner Karriere angelangt, als ihn die Konstituierende Nationalversammlung am 5. März 1919 zu ihrem ersten Präsidenten und damit zum ersten Staatsoberhaupt der neu entstanden Republik Deutsch-Österreich wählte. Doch das Amt, das ihn wirklich erfüllte und mit dem er sich ins kollektive Gedächtnis einschrieb, war das des Wiener Bürgermeisters. Als Nachfolger Jakob Reumanns setzte Seitz ab 1923 dessen Reformprojekt konsequent fort: In den neu errichteten Gemeindebauten wurden rund 60.000 Wohnungen geschaffen, es entstanden Sport- und Freizeitanlagen wie das Praterstadion, kommunale Bäder oder Kinderfreibäder. Der öffentliche Verkehr wurde modernisiert. Stadtrat Julius Tandler stand für eine moderne Gesundheits- und Sozialpolitik, Otto Glöckel für eine umfassende Schulreform. Das "Rote Wien" wurde zu einem internationalen Vorzeigemodell für eine gelungene moderne Stadtverwaltung. Die Zustimmung der Wienerinnen und Wiener zu Karl Seitz und seinem Programm zeigte sich bei den Gemeinderatswahlen 1927 und 1932 mit einem Stimmenanteil von 60,3% bzw. 59% für die Sozialdemokratie. Anlässlich seines 60. Geburtstages verlieh der Gemeinderat Karl Seitz im September 1929 den Ehrenbürger-Titel. De facto endete Seitz' Amtszeit im Bürgerkrieg 1934 mit seiner Verhaftung. Erst im Zuge der Weihnachtsamnestie wurde er wieder frei gelassen. Nach dem sogenannten "Anschluss" kam Seitz wieder für einige Tage in Haft. Während der beiden Diktaturen leistete der Politiker seinen Beitrag zum Widerstand, indem er sich auf seinen täglichen Spaziergängen der Bevölkerung zeigte und so präsent blieb. Denn von vielen Wienerinnen und Wienern wurde er nach wie vor als der legitime Bürgermeister wahrgenommen, respektiert und als "Herr Bürgermeister" angesprochen. Die Verhaftungswelle nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 machte auch vor Karl Seitz nicht halt. Er wurde ins KZ Ravensbrück deportiert, die letzten Kriegswochen verbrachte er in der thüringischen Kleinstadt Plaue, doch wusste man das in Wien noch nicht. Da also mit Karl Seitz der letzte demokratisch legitimierte Bürgermeister nicht greifbar war, wählte der Gemeinderat Theodor Körner zu seinem Nachfolger.

Am 15. Mai 1945 schrieb die Tageszeitung "Neues Österreich" unter der Überschrift "Bürgermeister Seitz befreit": "Eine Nachricht, die gewiß von allen Wienern freudig wahrgenommen werden wird: Karl Seitz, unser langjähriger freigewählter Bürgermeister, über dessen Schicksal durch geraume Zeit bange Ungewissheit herrschte, ist am Leben; er wurde von amerikanischen Truppen befreit und befindet sich zur Zeit in einem Krankenhaus in Thüringen". Am Morgen des 22. Juni 1945 kehrte schließlich der gesundheitlich stark angeschlagene frühere Bürgermeister ins zerstörte Wien zurück. Die ersten spontanen Begrüßungskundgebungen fanden noch am Abend desselben Tages statt. Am nächsten Tag, einem Samstag, wurde Karl Seitz offiziell zunächst im Roten Salon des Rathauses und dann unter der regen Teilnahme der Bevölkerung mit Musik und Sprechchören auf dem Rathausplatz empfangen. Rund 50.000 Menschen waren gekommen. Der Komponist Wendy Gelbmann widmete Karl Seitz anlässlich der Befreiungsfeier den Marsch "Österreichische Freiheitsfanfaren". Das "Neue Österreich" berichtete am 24. Juni über den Festakt: "Geradezu überwältigend, was sich da draußen abspielt! Tausendfach erklingt der Ruf: 'Hoch Karl Seitz!' Tücher werden geschwenkt, die Sprechchöre verstärken sich zu einem Sturm. Alles jubelt, alles schreit durcheinander: 'Da ist er!' Die Polizeimannschaften müssen eine feste Kette bilden, um für Seitz die Bahn freizuhalten." Die Begeisterung der Wienerinnen und Wiener ist durchaus nachvollziehbar, war doch der Auftritt des Altbürgermeisters ein weiteres sichtbares Zeichen dafür, dass der Krieg endgültig vorbei war und Ausdruck der Hoffnung, dass die zerstörte Stadt wieder im Geist des "Roten Wien" aufgebaut werde. Der Zeitungsartikel endet mit dem Absatz: "Überall sieht man Menschen, von denen der Alpdruck der letzten sieben Jahre geschwunden ist. Langsam formieren sich Gruppen zum Abmarsch. Musik ertönt und Lieder erklingen. Das demokratische Wien hat ein Bekenntnis zum letzten freigewählten Bürgermeister abgelegt."

Welche Bedeutung die Wiener Stadtverwaltung dem Empfang für Karl Seitz beigemessen hat, kann man unter anderem daran erkennen, dass selbst der erste Jahrestag mit einem großen Open-Air-Konzert der vereinigten Musikkapellen der Städtischen Betriebe (Straßenbahn, Gaswerke, E-Werke und Feuerwehr) auf dem Rathausplatz begangen wurde. Karl Seitz übernahm bereits am 25. Juni 1945 wie schon in der ersten Republik den Parteivorsitz, den er allerdings im nächsten Jahr aus Altersgründen wieder zurücklegte. Adolf Schärf wurde zu seinem Nachfolger gewählt und Seitz wurde Ehrenvorsitzender auf Lebenszeit. Dem Nationalrat gehörte er bis zu seinem Tod an.

Quellen:

  • Andreas Pittler: Karl Seitz 1869 – 1950. Wien: Gerold 2012 (A-332026)
  • Harald D. Gröller: Karl Seitz 1869 – 1950. Ein Leben an Bruchlinien. Wien: Schmid 2005 (A-277163)
  • Rudolf Spitzer: Karl Seitz. Waisenknabe – Staatspräsident – Bürgermeister von Wien. Wien: Deuticke 1994 (A-179305)
  • Franz Blaha: Karl Seitz. Mann des Volkes. Mann der Herzen. Wien: Wiener Verlag 1945 (A-117390)
  • Wienbibliothek im Rathaus: Personenmappe Karl Seitz 1940 – 2000 (TP 044228/2000)

Weiterführende Links:

Archiv der Objekte des Monats 2020:

Plakat der Sozialistischen Partei Österreichs, 1945
Nationalrat Karl Seitz, ca.1946
Karl Seitz hält Ansprache, ca.1946
Wandzeitung Nr. 34 der Sozialistischen Partei Österreichs, 1950